Herr Schuler, Sie sind evangelischer Christ und geben nun einer katholischen Wochenzeitung ein Interview. Wie fühlt sich das an?
Ich verwahre mich natürlich gegen jeglichen papistischen Mummenschanz (lacht). Ich komme ja aus einer reformierten Gemeinde in der Tradition Zwinglis, bei uns wurden Kerzen nur angemacht, wenn der Strom ausfiel. Es gab ausschließlich harte Bänke und das Wort. Ich fühle mich dem Katholizismus aber durchaus verbunden. Wenn ich allerdings in Altötting ganze Schaufenster mit Gipsmadonnen sehe, wird mir immer noch etwas mulmig.
Ob evangelisch oder katholisch, es kann nicht besonders angenehm gewesen sein, als Christ in der DDR aufzuwachsen, oder?
Nein, das war speziell. Der Besuch der Jungen Gemeinde wurde von Seiten des Staates ja als eine Art Verschwörung eingestuft. Ich muss gestehen: Ich bin mal in der Grundschule gefragt worden, ob ich zur Jungen Gemeinde gehe, und da habe ich „nein“ gesagt. Nur dieses eine Mal habe ich es verleugnet, aber das nagt bis heute schrecklich an mir. In meiner späteren Schullaufbahn habe ich immer offen gesagt, was ich denke, und damit war ich dann halt der schrullige Außenseiter.
Hat Sie diese Erfahrung der Jugendzeit geprägt?
Ja, das Isoliertsein war in der Tat prägend. Vor allem habe ich natürlich viele praktische Nachteile gehabt, ich bekam keinen Studienplatz und musste stattdessen als Mechaniker Glühbirnen herstellen. Aber dann kam die Wende, und diese war für mich eine Bestätigung, dass meine Haltung richtig gewesen ist. Charlie Chaplin, den ich sehr bewundere, hat mal gesagt: „Bedenke, dass Dir am Jüngsten Tag alle deine Filme wieder vorgeführt werden.“ So sehe ich das auch. Am Ende will ich mich nicht vor mir selbst schämen müssen. Daher kann ich Gegenwind, glaube ich, ganz gut aushalten.
Eine große Mehrheit scheint das nicht zu können, schließlich heißt Ihr neues Buch nicht umsonst „Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde“. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Menschen sind einfach Menschen. „Generation Gleichschritt“ meint auch nicht in erster Linie diejenigen, die im Gleichschritt marschieren, sondern diejenigen, die den Gleichschritt erzwingen. Man kann nicht von jedermann auf der Straße erwarten, ein Held zu sein. Es ist Aufgabe der gesellschaftlichen Eliten, eine Atmosphäre zu schaffen, in der man kein Held sein muss, in der man seine Meinung offen sagen kann, ohne Ausgrenzung erfahren zu müssen. In der DDR war das natürlich nicht so, da haben die Leute dann eben die Flagge aus dem Fenster gehängt, um ihre Loyalität zu beweisen, egal, ob diese nun echt war oder nicht.
Entspricht das heute in etwa dem Raushängen der Regenbogenfahne?
Ja, es ist eine Geste, die wenig abverlangt, aber viel Kredit einbringt. Wobei vermutlich die wenigsten wissen, was alles in der dahinterstehenden Ideologie enthalten ist. Ich bin mir nicht sicher, ob der Bundesverband der Deutschen Industrie, der seine gesamte Fassade in die Regenbogenfarben gehüllt hat, wirklich das heteronormative Weltbild überwinden will. Aber der Bundesverband der Deutschen Industrie ist eine jener Eliten, von denen ich eben sprach, die in der Pflicht sind, eine offene Debattenkultur zu gewährleisten. Daher sollte er sich gut überlegen, was er tut.
„Spätestens dann, wenn Menschen gegen die Wand laufen, merken sie, dass da immer eine Wand gewesen ist.“
Es scheint, als hätten Sie diesbezüglich nicht viel Vertrauen in unsere Eliten?
Da bin ich tatsächlich stark desillusioniert worden. Ich hatte gedacht, dass Menschen im Westen, die stark in einer freiheitlichen Kultur verankert sind, ein stärkeres Bewusstsein für Gefährdung der Freiheit hätten. Daher bin ich schockiert, wenn ich nun sehe, dass beispielsweise Meldestellen eingerichtet werden für antifeministische Vorkommnisse unterhalb der Strafbarkeitsgrenze. Das ist dann im Grunde ja nichts anders mehr als die Stasiakte, die man schon mal anlegt, um sie bei Bedarf hervorzuholen und gegen Menschen zu verwenden.
Oft hört man von der guten alten Zeit der Bundesrepublik, als offene Debatten noch möglich waren. Ist das nur Nostalgie, oder war es früher wirklich besser?
Zum Teil ist es Nostalgie, da es einen gewissen Konformitätsdruck immer gegeben hat. Die Fronten sind aber heute ohne Zweifel verhärteter als früher. Wenn Finanzdienstleister für Menschen mit bestimmten Positionen nicht mehr zur Verfügung stehen oder sich Gastwirte weigern, solche Menschen zu bedienen, dann ist das Klima eindeutig rauher geworden. Das Schlimme daran ist, dass diese Erfahrung natürlich wiederum die Ausgegrenzten verhärtet, so dass ein wirklicher Teufelskreis entsteht. Natürlich gab es in der Bundesrepublik auch früher schon heftig geführt Debatten. Aber man hat der anderen Seite nie ihr Existenzrecht abgesprochen. Heute sucht man die Gegenmeinung oft regelrecht zu eliminieren. Dabei verstehe ich die hysterische Sorge vor „falschen“ Meinungen überhaupt nicht. Es ist ja nicht so, dass, wenn jemand auf dem Podium sitzt und behauptet, die Erde sei eine Scheibe, sich alle Zuhörer dieser Position sofort anschließen würden.
Hat sich die Streitkultur auch thematisch verändert?
Neu ist tatsächlich, dass es heute eine gesellschaftliche Fraktion gibt, die meint, die Natur überwinden zu können. Das erinnert in gewisser Weise an den Sozialismus, der sich ja auch nicht an der Wirklichkeit orientierte, sondern diese zu überwinden suchte mit dem Ziel einer gänzliche neuen gesellschaftlichen Realität – die trotz aller Bemühungen aber nie entstanden ist und auch nie entstehen konnte. Die Natur lässt sich ebenso wenig überwinden.
Wird man das irgendwann einsehen?
Spätestens dann, wenn Menschen gegen die Wand laufen, merken sie, dass da immer eine Wand gewesen ist. Man denke zum Beispiel an die Rechtschreibreform der 90er Jahre. Jeder mit ein wenig Sprachgefühl wusste, dass diese Reform unsinnig ist, und trotzdem musste man sie erst einführen, um das zu merken. Dann hat man sie nach und nach zurückgedreht.
Wird das bei der Gendersprache auch passieren?
Ich denke, wir bemerken bereits täglich, dass kein Mensch so reden kann. Niemand ist in der Lage, erst recht nicht mehr im Bereich der Pronomina, ständig sämtliche potenziellen Korrelationen mitzubedenken und mitauszuprechen. Das ist auch gar nicht nötig. Gesellschaft ist vielfältig wie eine Wiese, bei der man auch nicht jeden Halm einzeln erwähnen muss. Wenn Dinge lebensfremd werden, sterben sie früher oder später ab.
Eine abschließende Frage: Wie kam es eigentlich dazu, dass Dieter Nuhr ein Vorwort zu Ihrem Buch geschrieben hat?
Ich hatte ihn lediglich um ein Zitat gebeten, und bekam einen tollen Text, der wunderbar als Vorwort passte. Ich kenne Dieter Nuhr seit mehr als 20 Jahren, als ich bei einer kleinen Zeitung in Potsdam Politikchef war. Ich wollte damals seinen TV-Jahresrückblick nachdrucken, und er sagte: „Ach, das ist doch langweilig, ich schreibe Euch etwas Neues. Dann hat er Jahr für Jahr eine ganze Seite für die „Märkische Allgemeine“ geschrieben und wollte nicht mal ein Honorar. Er ist einfach ein guter Typ.
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