„Tagespost“-Interview

Peter Trawny: „Johannäische Liebe wäre eine gerettete Welt“

Der Philosoph Peter Trawny ist nicht nur ein renommierter Martin Heidegger-Experte, er ist auch ein unbestechlicher Beobachter aktueller Geistesentwicklungen, der auch über Emotionen wie Liebe und Hass intensiv reflektiert.
Liebesschlösser in Köln
Foto: Bjoern Wylezich (67800341) | Die Liebe ist eine vollkommene Zusage an den anderen. Eine solche Lebenshaltung kann natürlich enttäuscht werden. Diese extreme Zusage kann bis zur Feindesliebe gehen.

Herr Trawny, „Die Liebe, die Liebe/Ist eine Himmelsmacht!“ heißt es in Johann Strauß Operette „Der Zigeunerbaron“. Was ist das Überirdische an der Liebe?

Liebe ist ein Gefühl, das uns fliegen lässt, so wie Eros ja auch ein Gott mit Flügeln ist, der uns fliegen lässt. Ein zeitlicher Aspekt des Überirdischen wäre, dass wir an die Unendlichkeit rühren, wenn wir lieben. Diese beiden Aspekte, würd ich sagen, machen die „Himmelsmacht“ aus: Das Gefühl, der Schwerkraft entkommen zu können und das Anrühren der Ewigkeit. Philosophisch verbürgt werden könnte das mit Platons Symposium zum Beispiel. Auch die Abstürze in der Liebe kennen wir übrigens nur, weil die Liebe diese „aviatorische“ Qualität hat.

Einen Moment lang habe ich gezögert, ob ich den Titel der Operette nennen soll, da er das inzwischen verpönte sogenannte „Z-Wort“ enthält und viele Texte inzwischen umgeschrieben werden. Laufen Sie Gefahr, sich dieser Auslöschung der Geschichte zu beugen?

Nein. Ich würde darüber nicht nachdenken, weil ich mich vom Zeitgeist in dieser Hinsicht nicht beeinflussen lasse. Das sogenannte N-Wort habe ich schon nicht mehr verwendet, bevor es dann zum N-Wort geworden ist. Es ist zwar nicht alles Quatsch, was in diesem Bereich passiert, das Umschreiben von Texten aber halte ich für unsinnig. Diese Safe Space-Politik läuft letztlich auf eine Emotionshygiene hinaus. Die Kontrolle der Sprache ist Gewalt. Es gibt ja aber auch Gegenbeispiele: Die Peaky Blinders sprechen ganz normal von den „Gipsys“.

Stellt man nicht ähnliche Tendenzen auch bei der Liebe fest? Liebe wird als etwas Ephemeres, Vergängliches und vor allem Planbares gesehen.

Vor dem Hintergrund der Dating Apps scheint das so zu sein. Ich stelle auch eine Vertragssprache fest: Das kann ich. Das will ich. Manche Philosophen sprechen von der Agonie des Eros, von der zerstörerischen Kraft dieser Apps. Das halte ich für eine Paranoia, die übrigens eine Motivation von Philosophie ist. Im Großen und Ganzen ist es aber so, dass die Menschen immer noch mit den guten alten Liebeswonnen und -sorgen zu tun haben und es dann doch nicht schaffen, sie zu rationalisieren. Was die Dauer betrifft: Die Ehe auf Lebenszeit ist planetarisch betrachtet immer noch das Beziehungsmodell Nummer 1. Es ist eine sehr, sehr westliche Sicht, die Liebeserfahrung zum Appetithäppchen machen zu wollen.

Als ob die Liebe nicht ohnehin schon genug Gefahren ausgesetzt wäre, versucht man sie mit Wurfgeschossen wie „toxische Männlichkeit“ zu zerschmettern. Muss sie das aushalten oder braucht sie einen Schutzschirm?

Wir sollten die Fähigkeit haben, diese Sprache zu verweigern. Der Boykott dieses Registers dient in gewisser Weise dem Schutz der Intimität, mehr noch als dem der Liebe. Die Liebe ist nach wie vor eine Macht, die sich durch solche Mückenstiche nicht unterkriegen lässt. Es gibt doch immer noch genug Angebote, eine andere Sprache zu pflegen. Ich denke dabei an die Dichtung ... den Zigeunerbaron zum Beispiel (lacht).

Von der Himmelsmacht ist die Liebe weit entfernt derzeit. Der Materialismus scheint zu siegen, das Physische alles zu bestimmen. Das „Liebesleben“ ist nur mehr ein Synonym für Sex. Wie kann uns die Philosophie einen Weg aus dieser Bredouille weisen?

Vor dem Hintergrund der ganzen Dating-Apps oder, vielleicht noch besser, Partnerbörsen gibt es diese Verschiebungen, aber der Liebe kommt gewiss eine besondere Eigenschaft zu: Sie macht immer alles anders, und zwar so, wie sie will und nicht wie es die Spatzen von den Dächern pfeifen. Selbst wenn man nur das Physische im Sinne hat, ist immer noch alles möglich, selbst dass man sich in die Prostituierte verliebt. Die Kontingenzen können nicht kontrolliert werden, auch nicht die negativen: Etwas Atmosphärisches, eine Unzufriedenheit zum Beispiel. Es war doch nicht so umwerfend, wie man dachte, oder andersherum.

Dem ungebrochenen Glauben an die Liebe stemmt sich eine Übermacht von Gesellschaft und Ökonomie entgegen. Für die Soziologin Eva Illouz ist Liebe zur Ware geworden. Tinder hat seinen Teil dazu beigetragen. Hat die Liebe ein Ablaufdatum?

Komischerweise stellt die Soziologie inzwischen so eine Art Leitwissenschaft für die Öffentlichkeit dar. „Gesellschaft“ scheint eine Art von Fetisch geworden zu sein. Eva Illouz Satz ist jedoch eine Karikatur. Das ist eine mögliche Sicht auf die Liebe, aber es fehlen alle Zwischentöne, Stimmungen und Nebengeräusche, die dazu gehören. Deshalb glaube ich nicht, dass man Liebe so beschreiben kann. Die Generation unserer Kinder hat ähnliche Probleme in der Liebe wie ich in deren Alter, auch dieselben Sehnsüchte und Versagensängste. 

Der extreme Individualismus unserer postmodernen Gesellschaft, die Verlockung des Spektakulären und die Überbetonung des Singulären führen dazu, dass auch die Liebe auf dem inneren Rückzug ist. „Ich könnte die ganze Welt umarmen“ ist der Liebende heute noch dazu gewillt und in der Lage?

Hannah Arendts Buch „Vita activa“ sollte ja „Amor mundi“ heißen, wobei Arendt, wenn es um Liebe geht, über Weltlosigkeit schreibt. Es gibt aber diese Erfahrung, dass die Liebe einem die Welt in einem besonderen Licht erscheinen lässt. Es öffnet sich eine Lebens- oder Weltlust, die einen die Welt mit einem ganz anderen Atem erleben lässt. Wagners Oper „Tristan und Isolde“ endet großartig mit diesem „Weltatem“. Der Rückzug ins Innere wiederum ist mit einer romantischen Liebesvorstellung verbunden. Das Innere ist die Echokammer des Liebesgefühls und der Liebeszusage an den Anderen, das, was man auch Seele nennt. Da kann sich eine gewisse Offenheit ergeben in der Liebe. Es gibt diesen Vers von Hölderlin: „Komm! ins Offene, Freund!“ Gemeinsam im Offenen zu sein, ist eine der höchsten und intensivsten Erfahrungen der Liebe. Etwas Gemeinschaftsgründendes hat die Liebe aber nicht, denn der grundsätzliche Weltzugang des Menschen hat mit Selbstdurchsetzung- und erhaltung zu tun. Die Liebe als Weltprogramm ist seit ihrer ersten Äußerung bei Jesus von Nazareth stark in der Defensive. Adorno sagte in einem Aufsatz: „Wir alle fühlen uns nicht geliebt“ und damit meint er die Liebe in der Gesellschaft. Das liegt daran, dass wir alle den Nächsten nicht lieben. Dazu aber ist die Liebe nicht angetreten. Die Liebe kann den Gesellschaftskampf nicht einfangen, scheint mir.

Dem Satz „Ich liebe dich“ schreiben Sie einen quasireligiösen Bekenntnischarakter zu. Ist es nicht vielmehr so, dass der Satz zu einer inflationären Formel verkommen ist?

Ja, man könnte an den Punkt kommen, den Satz nicht mehr zu sagen. Man kann aber nicht davon absehen, dass selbst die reduzierte Aussage ein performativer Akt ist: der Ausdruck einer Zusage. Ja, so ist es gut! Der Satz kann aber auch eine Art falscher Sicherheit bedeuten: Ich spreche den Satz aus und kontrolliere damit die Situation. Trotz all dieser Möglichkeiten glaube ich nicht, dass wir auf den Satz verzichten können. Die Griechen unterschieden eine himmlische von einer irdischen Aphrodite, einer allgemeinen. Es gibt gewiss ein „Ich liebe dich“ im Sinne einer gesteigerten ernsthaften Zuwendung und eine Korruption des Satzes, in der „Ich liebe dich“ durch den Dreck gezogen wird. 

“Sprachlose Liebe“ gibt es nicht, heißt es in Ihrem Buch. Wie ist es um die Sprache der Liebe bestellt?

Die Sprache der Liebe ist immer eine schwierige. Im Briefwechsel von Frisch und Bachmann gibt es so einen hysterischen Ton der Liebe, den ich kaum aushalte. Die Sprache wird da zu einer Art Liebesblaulicht Tatütata, hier kommt die Liebe! Diese Invokationen, diese Beschwörungen! Je hysterischer der Ton, desto verdächtiger. Eine seltsame Überfluss-
ökonomie, in der sich die Sprache der Liebe eher weniger zeigt. Die Sprache der Liebe kann sehr karg sein, sehr still, kann aber auch plappern. Sie kann auch einen tragischen oder poetischen Ton haben. Wann gelingt das? Das weiß man nicht.

Gibt es dieses gewisse Etwas, dieses Je ne sais quoi der Liebe, das man nicht entschlüsseln kann?

Natürlich, das ist das Herz der Liebe, die Nicht-Entschlüsselbarkeit.

Pein und Passion sind für Sie die fruchtbare Kraft der Liebe: „Liebe ohne Schmerz ist gar keine.“ Eine provokante Aussage in einer Zeit, in der die Menschen schmerzbefreit und anästhesiert leben wollen. Weshalb bestehen Sie auf dem Schmerz?

Weil es ihn gibt (schmunzelt). Das hängt aber auch mit dem zeitlichen Aspekt zusammen: Liebe braucht Zeit. Liebe wächst. Es gibt natürlich auch diese kurzen Liebeseruptionen. Die Entfaltung von Liebe aber kann es nicht geben ohne Frustration, Schmerz, Eifersucht. Wenn man all das abziehen möchte von einer Liebesbeziehung, bleibt kaum etwas übrig, auch die Freude zehrt von der Trauer. Wenn der Schmerz aber dazu anstachelt, nicht loslassen zu können, dann wird es problematisch.

Dem Katholizismus wird gern eine Leibfeindlichkeit nachgesagt. Dabei hat die negative Betrachtung des Leibes in der Philosophie eine viel längere Tradition. Für Platon ist der Körper der Kerker der Seele. Hinzu kommt der Leib-Seele-Dualismus. Einem Katholiken käme dieser Gedanke nicht in den Sinn: Der Mensch ist mit Leib und Seele Gottes Ebenbild. Wie erklären Sie sich dieses hartnäckige Vorurteil?

Also Dummheit ist ja grenzenlos (lacht; dann wieder ernsthaft). Natürlich hat es im Christentum den radikalen Versuch der Beherrschung des Begehrens gegeben. Man ist auch mit Feuer dagegen vorgegangen. Grundsätzlich aber geht es im Katholizismus um eine Kultivierung dieses in sich wilden Gottes Eros. Das ist es, was Religion macht: Es ist kein Ausbrennen, sondern ein Einholen dieser eigentlich barbarischen Kraft. In den Paulinischen Briefen wird ja auf die Ehe als dem Ort verwiesen, wo Sexualität sinnvoll gelebt werden kann. Dass die Ehe als guter Ort aufgezeigt wird für Sexualität, würde ich nicht als Leibfeindlichkeit bezeichnen. Denn die Sexualität braucht ja auch Zeit, Intimität, Stille.

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In der Bibel wird die Einsicht in den Schmerz der Liebe ergänzt durch ein Plädoyer für das Risiko: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe.“ (1. Johannes 4,18) Brauchen wir wieder mehr Risikobereitschaft?

Darüber hat ja Dieter Henrich noch geschrieben, bevor er verstarb. Die Liebe in diesem Sinne ist eine vollkommene Zusage an den anderen. Eine solche Lebenshaltung kann natürlich enttäuscht werden. Diese extreme Zusage, die bis zur Feindesliebe gehen kann, johannäische Liebe wäre eine gerettete Welt.


Zur Person Trawnys

Professor Dr. hab. Peter Trawny, geboren 1964 in Gelsenkirchen. Leiter des von ihm gegründeten Martin-Heidegger-Instituts an der Bergischen Universität Wuppertal. Zahlreiche Lehr- und Forschungsarbeiten an internationalen Universitäten. Aktuelle Veröffentlichungen: „Philosophie der Liebe“ (S. Fischer, 2019), „Krise der Wahrheit“ (S. Fischer, 2021) sowie „Hitler, die Philosophie und der Hass. Anmerkungen zum identitätspolitischen Diskurs“ (Matthes & Seitz, 2022).

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