Erbsündendebatte

Naiver Unschuldswahn?

Warum die Erbsündenlehre zur DNA des christlichen Glaubensbekenntnisses gehört.
Brunnen
Foto: Imago/Imagebroker/Schauhuber | Auch literarisch ein Thema: Der Schriftsteller Thomas Mann verglich die Erbsünde mit einem tiefen Brunnen.

Der Abschied von der Erbsünde? Der Begriff und Glaubensinhalt der „Erbsünde“, die alle Menschen von Geburt an aufgrund des adamitischen Falls als Merkmal prägt, ist in der Gegenwart mehr denn je umstritten und scheint dem modernen Freiheitsverständnis zu widersprechen. Zu sehr erinnert dieses „Dogma“ an eine Sippenhaftung und eine Kollektivschuld, die keinen Respekt für die Autonomie und Eigenverantwortlichkeit des Menschen aufbringt. Joseph Ratzinger hat in seiner „Einführung in das Christentum“ (1968) nur kurz das Thema gestreift im Zusammenhang mit der „Diktatur des Milieus“ und der „Macht des Man“.

Der Philosoph Robert Spaemann (1927-2018) meinte, dass „es kaum eine christliche Lehre gibt, die plausibler ist als die Erbsündenlehre“. Immer noch erhellend sind die Texte von Christoph Schönborn, Albert Görres und Robert Spaemann „Zur kirchlichen Erbsündenlehre. Stellungnahmen zu einer brennenden Frage“ (Freiburg 1991). Für Katholiken, Lutheraner, Calvinisten und auch – was von Manfred Hauke (Lugano) nachgezeichnet wurde – östlich-orthodoxe Gläubige gehört die auf Paulus, Johannes und Augustinus zurückgehende Erbsündenlehre gleichsam zur DNA ihrer christlichen Glaubensbekenntnisse.

Fundamentalkritik und Missverständnisse

Auf dem Stuttgarter Katholikentag im Mai 2022 fand keine Veranstaltung derartigen Zulauf wie die Diskussion der Theologen Christoph Böttigheimer (Eichstätt) und Johanna Rahner (Tübingen) zur Verabschiedung der unmodernen Lehre von der Erbsünde. Sie sei ein „Unbegriff“ und ein „hölzernes Eisen“, wie es in dem Eichstätter Tagungsband „Die Erbsündenlehre in der modernen Freiheitsdebatte“ (Freiburg 2021) hieß. Vor allem die Schule des Münsteraner Theologen Thomas Pröpper (1941-2015) sieht es freiheitstheologisch so, spricht vom „Erbsündensyndrom“ oder von einem augustinischen „Ur- und Erbsündenkonstrukt“ (M. Striet). Der Küng- und Haag-Schüler Hermann Häring (Jg. 1937) schrieb im Dezember zum liturgischen Fest der ohne Erbsünde empfangenen und damit „vorerlösten“ Jungfrau Maria in der Freiburger Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“ von einem dunklen, traumatisierenden Menschenbild der Erbsündenlehre, das zu „Frauenhass, Sexualphobie und Klerikalismus“ geführt habe und eiligst zu entsorgen sei.

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Dabei übersehen diese Einsprüche, dass die Erbsünde aufgrund des paradiesischen Sündenfalls der Stammeltern Adam und Eva nie als persönliche Schuld im Zusammenhang des Sexuellen galt und mit Paulus immer im christologischen Zusammenhang der Erlösung gesehen wurde: „Wie es durch die Übertretung eines einzigen für alle Menschen zur Verurteilung kam, so wird es auch durch die gerechte Tat eines einzigen [die Tat Christi] für alle Menschen zur Gerechtsprechung kommen, die Leben gibt“ (Römer 5, 18; Katechismus der katholischen Kirche 402).

In vielen Köpfen geistert zudem noch das Missverständnis, als würde das Erbe der Sünde durch den Geschlechtsakt sogar von Getauften an die Nachkommen weitergegeben. Der Sündenfall war aber keine sexuelle Verfehlung, sondern ein stolzes, misstrauisches und ungehorsames Aufbäumen der von Gott dem Menschen geschenkten geschöpflichen Freiheit gegen ihn selbst. Sicher hat dann „postlapsarisch“ die mit der unerlösten Endlichkeit verbundene existenziale Angst eine Rolle gespielt, wie es Sören Kierkegaard in seiner Analyse „Der Begriff Angst“ (1844) und Eugen Drewermann in seinem großen Werk „Strukturen des Bösen.

Die Erbsünde ist ein Verlust der Gnade des Urstandes

Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer, psychoanalytischer und philosophischer Sicht“ (Paderborn 1977/78) breit dargelegt haben. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die Angst „nicht Ausdruck des Sündenbewusstseins ist, sondern gerade dem entspringt, dass ein solches Bewusstsein nicht vorliegt“ (Ingolf U. Dalferth). Der Innsbrucker Jesuit Raymund Schwager (1935-2004) hat innovativ und in Orientierung an René Girard in seinen Aufsätzen „Erbsünde und Heilsdrama“ (Münster 2004) dazu den Kontext von Evolution, Gentechnologie und Apokalyptik eröffnet. Leider rezipieren ihn die Erbsündenkritiker der Pröpper-Schule überhaupt nicht.

Naiver Unschuldswahn widerspricht allen erfahrbaren anthropologischen Grundbefindlichkeiten und dem von Kant gesehenen „Hang zum Bösen“ – auch wenn man nicht mit dem Philosophen Arthur Schopenhauer in der Erbsündenlehre gar „Mittelpunkt und Herz des Christentums“ erkennen muss und genauso wenig mit Rousseau die gute menschliche Natur allein durch die Zivilisation korrumpiert sieht (deshalb der Ruf: „Zurück zur Natur!“). Für den Kirchenlehrer Thomas von Aquin, der stets das Gutsein der Schöpfung lehrte, ist die Erbsünde ein Verlust der Gnade des Urstandes und – wie es Gustav Siewerth 1939 in einer Untersuchung zusammenfasste – ein „verderbter habitus“, der auch nach der Taufe als Erbsündenfolge durch Konkupiszenz-Begierde im Menschen wirksam ist.

Der Mathematiker und Religionsphilosoph Blaise Pascal meinte: „Sicher befremdet uns nichts härter als diese Lehre, und doch bleiben wir ohne dieses unverständlichste aller Geheimnisse uns selber unverständlich. Der Knoten unserer Lage erhält seine Verwicklungen und Schlingen in diesem Abgrund; Und so ist der Mensch ohne dieses Geheimnis noch unverständlicher, als dieses Geheimnis dem Menschen unverständlich ist“ (Pensée 434). Für den zum Katholizismus konvertierten heiligen John Henry Newman „ist die Lehre von dem, was die Theologen Erbsünde nennen, […] fast ebenso gewiss, wie die Existenz der Welt und die Existenz Gottes“ (Apologia pro vita sua). Dem schließen sich weitere neuzeitliche Denker wie Max Scheler und Leszek Kolakowski an, aber auch Schriftsteller wie Franz Kafka besonders in seinem „Prozess“ und Thomas Bernhard in seinen autobiografischen Erzählungen („Die Ursache“; „Das Kind“).

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Maria als Urbild des vollendeten Menschen

Mit Thomas Manns großem Roman „Joseph und seine Brüder“ lässt sich Erbsündiges finden im „tiefen und unergründlichen (Jakobs-) Brunnen der Vergangenheit“, das bis zu einer Art „Höllenfahrt“ führen kann. Das Ringen mit der Sünde und der erbsündigen Verfasstheit des Menschen haben weltliterarisch Dantes „Göttliche Komödie“, Calderons „Großes Welttheater“, Hoffmannsthals „Jedermann“, Claudels „Seidener Schuh“, Tolkiens „Herr der Ringe“ und die Priesterromane Georges Bernanos‘ beeindruckend veranschaulicht. Am Ende kann bei lauterem Streben immer die Gnade über die Sünde, ihre Wunden und die Folgen der Erbsünde siegen – auch wenn dies für die Christen und die Kirche bis zuletzt ein „harter Kampf“ (Katechismus der katholischen Kirche 407-409) bleiben wird. In der nach dem „Immaculata-Dogma“ von 1854 vor der Erbsünde bewahrten Gottesmutter Maria kann nicht nur eine Ausnahme und ein Einzelfall gesehen werden, sondern ein Urbild des vollendeten Menschen, zum dem hin alle Getauften vom dreieinigen Gott berufen sind und das auch von vielen – ob bekannt oder völlig unbekannt – bereits zu Lebzeiten erreicht wurde.

Die „libertarische“ (Saskia Wendel) Fundamentalkritik moderner Theologen am Erbsündenbegriff behält allerdings etwas Pelagianisches, wenn sie die Freiheit des autonomen Menschen über Gott und seine Gnade stellt, jede Art der Verdankung als Entfremdung und Bevormundung ächtet, statt in ihr eine Beglückung und Erfüllung zu sehen. Gerhard Kardinal Müller fasste in seinem Lehrbuch „Katholische Dogmatik“ sehr klar zusammen: „Die Erbsündenlehre steht nicht für sich. Sie muss entfaltet werden im Blick auf den je größeren Heilswillen Gottes, der sich in der Geschichte als Erlöser und Vollender des Menschen offenbart hat. Wesen und Bestimmung ,Adams‘ erhellen sich erst im Christusereignis.“

Vielleicht hilft hier zusätzlich der Blick auf die „neue Eva“ Maria als Ur- und Vorbild „befreiter Freiheit“ – wie sie vom Regensburger Philosophen Ferdinand Ulrich unter anderem in seinem Buch „Gegenwart der Freiheit“ (1974) einzigartig erfasst wurde.

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