Frau Rois, Ende des letzten Jahres lasen Sie an der Volksbühne aus Ingeborg Bachmanns Erzählung "Alles". Der Text handelt von der Utopie, Missverständnisse durch eine ideale Sprache überwinden zu können. Führt Sie dieser Gedanke in Versuchung?
Bestechend an der Geschichte ist das Widersprüchliche. Bachmann sagte einmal, sie würde außerhalb der Sprache gar nicht existieren. Und dann schreibt sie eine Geschichte, in der sie die Sprache grundlegend anzweifelt. Die Erzählfigur packt das Entsetzen, als sie erkennt, dass das eigene Kind, von dem man sich Erlösung erhofft, auch an die Grenzen der Sprache stößt: "Alles war eine Frage, ob ich das Kind bewahren konnte vor unserer Sprache, bis es eine neue begründet hatte", und "Ich hatte erwartet, dass dieses Kind, weil es ein Kind war ja, ich hatte erwartet, dass es die Welt erlöse."
Ein großartiger christlicher Gedanke! Mit jeder Geburt, jedem neuen Leben findet die Sehnsucht nach Erlösung ihren Raum. Ich glaube aber nicht an eine bessere, reine Sprache. Ich glaube überhaupt nicht an ein reines Dasein. Im Moment des Sündenfalls beginnt etwas Großartiges: Das Erwachen des Bewusstseins und die Möglichkeit von Liebe und damit die Möglichkeit der Erlösung.
Heute spricht man der Sprache eine Allmacht zu, die schon fast etwas Magisches hat, beispielsweise beim Gendern. Nicht selten führt dieser Sprachaberglaube dann zur Tatenlosigkeit. Als Frau des Wortes: Wann schreiten Sie zur Tat?
Ahh, oh, oh, also Heldentaten sind von mir nicht zu erwarten! Ich bin ein rechter Feigling. Ja, (überlegt), ich bin ein Maulheld. Ich bin fasziniert von der Gewalt der Sprache. Nicht umsonst gibt es die Beichte oder die Analyse. Ein Wort kann bannen, kann mich erleichtern, kann etwas beschwören. Das ist eine heikle Sache! Im Moment des Genderns wird die Sprache aber nicht mächtig, sondern eher impotent. Ich gendere auch nicht, weil ich mich durch das Gendern erst recht als Frau markiert sehe. Es ist eine Vergewaltigung der Sprache und ich glaube, die Sprache schlägt gnadenlos zurück.
Für Ingeborg Bachmann gibt es auch das Unaussprechliche, das Mystische, das sich zeigt. Hatten Sie schon einmal das Gefühl, dass sich Ihnen etwas sprachlos offenbart? Beim Betrachten eines Bildes zum Beispiel, in einem bestimmten Moment des Spiels?
Oh ja! Es reicht nicht, auf die Bühne zu stolpern und schlaue Sätze zu sagen. Da passiert gar nix. Du musst dich in etwas verstricken, in einen Vorgang, durch den etwas sichtbar wird. Das ist aber nicht planbar. Es ist mehr eine Befragung oder es findet statt in einem Verhältnis zwischen Gesprochenem und Handlung, in dem Zwischenraum, der sich da auftut. Das ist etwas, worauf man immer wieder stößt: Das Leben hält sich in den nicht benennbaren Zwischenräumen auf.
Als Österreicherin war Ihnen der Katholizismus von Kindesbeinen an vertraut. Inwieweit hat Sie das geprägt?
Meine Seelen-, meine Psychodynamik ist eine katholische. Als abendländischer Mensch ist man von zweitausend Jahren Christentum geprägt, auch wenn man vielleicht kein Bewusstsein dafür hat. Selbst in Berlin feiere ich jedes Jahr Ostern. Was für eine großartige Dramaturgie, wie viel die um die menschliche Existenz weiß! Gott fällt vom Glauben ab, zweifelt, stirbt von allen verlassen. Nur aus dem Boden dieser Verzweiflung gibt es eine Auferstehung am Ostersonntag. Am Karfreitag würde ich niemals feiern gehen. Ich rutsch dann auf meinem Küchenboden herum und wische und weiß: Jetzt ist er gestorben.
Wie wirkten diese Rituale als Kind auf Sie?
Als kleines Kind prasselt alles auf dich ein. Mein Vater spielte in der Kirchenkapelle. Besonders liebte ich das Stimmen der Instrumente. Das war natürlich kein astreines Spiel, wenn auf dem Friedhof der Chopinsche Trauermarsch gespielt wurde. Heute noch bin ich sofort ergriffen bis aufs Innerste, wenn ich ein Blasinstrument ein bisschen schief spielen höre. Das Ritual hat etwas Entlastendes. Bei der Beerdigung meines Vaters sagte der Pfarrer einen Satz, der mich auf den materialistischen Gehalt des Christentums hingewiesen hat: Von Erde kommst du und zu Erde wirst du.
Das hat mich getroffen wie ein Hammer! Dieses Ritual hat uns alle nachhaltig befriedet. Bei der Zehrung sagte ich zum Pfarrer: Herr Pfarrer, von Schauspieler zu Schauspieler, meine große Anerkennung! Mein Bruder war entsetzt und meinte, ich hätte den Pfarrer diffamiert, weil ich ihn zum Schauspieler degradiert hätte. Verstehen Sie, was ich meine?
Aber ja! Die Kirche und das Theater haben mehr gemein, als man annehmen könnte. Die Darstellungskunst, der Glaube an eine Katharsis. Das Göttliche kann sich offenbaren. Es gibt Kollegen, die Sie als die "Heilige" der deutschen Bühne betrachten. Wie gefällt Ihnen der Gedanke?
Das hab ich noch nie gehört. Wer sagt das? Sagen Sie s mir! Ich vergess es sofort wieder! Das triggert meine Eitelkeit, ich muss es aber weit von mir weisen. An manchen Abenden taucht auf der Bühne so etwas wie Schönheit auf. Das ist nicht an der graden Nase, an der Person festzumachen. Es taucht auf in der Reibung mit mir, meinen Kollegen, dem Text. Es ist etwas schwer Greifbares. Ob es etwas Kathartisches hat? Eher eine kurzzeitige Erlösung. Oder, wie es bei Ingmar Bergman einmal heißt: "Schauspieler sie stiften Verwirrung und Ergriffenheit." Wenn man einmal eine Papstwahl im Fernsehen verfolgt hat, dann denkt man: Diese Katholiken sind Spezialisten für theatralische Effekte!
Am Theater eröffnen sich Ausdrucksmöglichkeiten, die wir uns im Alltag oft versagen. Ekstase, Verzückung das sind Gefühle, die man auch in der Religion kennt. Kennen Sie diesen Zustand?
Ich hab jetzt die Leute noch nie dazu gebracht, sich die Haare zu raufen und zu schreien. Am ehesten noch mit Stücken von Christoph Schlingensief. Ich bin kein Spezialist für Ekstase, es gibt aber so einen merkwürdigen widersprüchlichen Zustand, wo ich spiele, aber auch gespielt werde. Dafür braucht es aber viel Aufwand. Diesen Zustand aber erreicht man nicht gezielt, er stellt sich irgendwann ein, wenn man Glück hat. Das heißt aber nicht, dass ich alles um mich herum vergesse. Ganz im Gegenteil: Die Aufmerksamkeit ist dann ganz besonders groß. Auf der Bühne habe ich schon mal eine schwere Lampe aufgefangen, weil ich aus dem Augenwinkel den Fall bemerkt habe. In meinem Privatleben dagegen bin ich ein tollpatschiger Mensch, immer zu langsam, ein wenig daneben.
Der Maler Max Ernst nannte eines seiner Bilder "Wenn die Vernunft schweigt, singen die Sirenen." Kann der Lockruf manchmal beglückender sein als die Erfüllung des Gezwitschers?
Ja, der Lockruf ist es. Wobei der Witz natürlich ist: Man darf sich nicht von vornherein zufrieden geben mit dem Lockruf. Wir müssen das Gezwitscher erreichen wollen. Erst dann offenbart sich die Schönheit des Lockrufs.
Apropos Gezwitscher: Ihre Stimme ist sehr speziell. Was glauben Sie, wie Odysseus auf Ihre Stimme reagiert hätte?
Gar nicht. Der hätte mich für einen seiner Matrosen gehalten. Ich kann meiner Stimme jetzt kein verführerisches Potenzial zuordnen. Nein.
Vielleicht hätte er sich auch überfordert in eine weitere Odyssee gestürzt? Wenn Sie mit einer Situation überfordert sind, neigen Sie dann dazu, das Weite zu suchen oder sich zu verkriechen?
Oh, ich bin dauernd überfordert. Ich kenne alle Arten, darauf zu reagieren. Also depressive Erstarrungen. Fluchtinstinkt. Schotten dicht machen oder sich der Überforderung in die Arme werfen. Bei der Arbeit habe ich eine Taktik entwickelt, meine Überforderung zum Problem des Regisseurs zu machen, weil das natürlich auch oft ein Trick der Regie ist, das eigene Unvermögen an den Schauspieler zu delegieren. Wenn ein Regisseur pampig oder blöd zu mir wird, werde ich total frigide. Ich verweigere mich dann komplett und implodiere.
Apropos Überforderung: Speziell war, wie manche französische Adlige mit dem Tod umgingen: Manche verkürzten sich während der Französischen Revolution die Wartezeit vor der Guillotine mit angenehmer Lektüre. Ist das heroisch, stoisch oder snobistisch?
Bewundernswert kaltblütig, würde ich sagen. Und was immer es auch ist, ich bewundere das. Adlige Tugenden von Todesverachtung und Arroganz, das imponiert mir wahnsinnig. Wagemut, Arroganz, Ritterlichkeit, wundervoll!
Im Katholizismus wird die Vergegenwärtigung des Leids gepflegt. So in Jesu Passionsgeschichte oder auch in den Passiones von Märtyrern. Ist das für Sie ein Leidenskult oder ein fortschrittlicher Umgang mit Schmerz?
Wahrscheinlich ist das der menschlichen Existenz eingeschrieben, dass wir leiden müssen. Das Liebesleid zum Beispiel ist schwer zu verstehen, in einer Zeit, in der alles wegtherapiert wird. Ich eigne mich aber nicht zum Märtyrer. Ich gehöre zu dem banalen Menschenschlag, der versucht, so gut es geht Leid zu vermeiden. Einen Liebesbeweis wie Jesus könnte ich nicht erbringen. Ich würde mich nicht kreuzigen lassen. Und konfrontiert mit der spanischen Inquisition würde ich allem abschwören.
Was ist schwieriger auszudrücken auf der Bühne: Liebe oder Schmerz?
Die großen körperlichen Qualen bis auf meinen Bandscheibenvorfall sind mir bis jetzt erspart geblieben. Aber ich muss die Darstellung ja nicht mit meinem authentischen Ich abgleichen. Diese Authentizitätsfanatiker wissen überhaupt nicht, wie sehr sie sich berauben ihrer widersprüchlichen, komplexen Existenz. Bühnenvorgänge sind auch Rituale. Du stimmst den Klagelaut an und also klagst du, das funktioniert von außen nach innen. Ich bin kein Masochist. Ich will auch auf der Bühne nicht leiden.
Der letzte Satz in Ludwig Wittgensteins "Tractatus Logico- Philosophicus" lautet: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen." Ist das eine Option?
Ich bin nicht gerade als großer Schweiger bekannt. In einem Fernsehstudio zu sitzen und alles über mich und meine sexuellen Vorlieben zu erzählen, würde mich aber zerstören. Es ist wichtig, auch Dinge nicht zu sagen. Ein leicht dahingesagtes Geständnis kann alles ruinieren, auch ein "Ich liebe dich" an falscher Stelle. Es gibt aber auch ein anderes Reden, das wie das Gezwitscher eben ist, also wo man einfach nur was Schönes aufblühen lassen kann. Blödsinn aufsteigen zu lassen, das hat etwas Wunderbares. Ein dahingesagter, bezaubernder Unsinn bringt mich sofort zum Lachen. Diesen Anspruch habe ich auch für die Schauspielerei: Ich bin der Welt eine angenehme Unterhaltung schuldig.
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