Wie funktioniert eine Uhr? Woher kommt der Regen? Kinder stellen solche Fragen, doch auch als Erwachsene bleiben wir als Menschen Wesen, die verstehen möchten. Um verstehen zu können, brauchen wir andere, von denen wir lernen, mit denen wir sprechen. Dieses Gespräch kann sich aber auch über die Zeit hinweg ereignen. Ja, dass manche unserer Gesprächspartner bereits tot sind, bedeutet keinen völligen Abbruch dieses Geschehens. Dazu bedarf es aber keiner Geisterseher. Durch die Erfindung der Schrift können Gedanken über die Zeit hinweg konserviert werden. Lesen bedeutet Auseinandersetzung mit dem Denken eines vielleicht schon lange verstorbenen Menschen. Und auch solche können uns durchaus etwas zu sagen haben.
Einer der Schlüsseltexte der Menschheit ist die Metaphysik des Aristoteles. Der moderne Leser, der sich vom abstrakten Titel nicht abschrecken lässt, findet einen Gesprächspartner, der nichts an Aktualität eingebüßt hat. „Jeder Mensch strebt von Natur aus nach Erkenntnis“, so beginnt der große Text, dessen eigenartiger Name daher kommt, dass es um all die Themen geht, die nach (meta) der Erforschung der Natur (physik) noch ungeklärt sind. Dazu gehören die Allergrößten. Menschen wollen Dinge wissen; wer sich für Schmetterlinge begeistern kann, wen die Verstrickungen der englischen Königsfamilie oder auch nur die nächste Folge der Netflix-Serie interessiert, folgt nach Aristoteles seiner menschlichen Natur, etwas wissen zu wollen.
Es geht nicht um bildungsbürgerliche Marotten
Von dieser ersten Tatsache leitet Aristoteles seine weiteren Schritte ab. Als Sinneswesen nehmen wir zunächst einzelne Gegenstände wahr. Wenn man einen Stein fallen lässt, fällt er zu Boden. Die Erkenntnis schreitet nun fort vom Einzelding zum immer Allgemeineren. Nicht nur dieser eine Stein fällt, sondern alle Steine fallen, ja, alle Gegenstände. Die Erforschung der materiellen Welt ist Gegenstand der Physik, die des menschlichen Körpers der Medizin. Doch noch allgemeinere Fragen können gestellt werden; die menschliche Erkenntnis kann sich an Themen wagen, die alle Einzelwissenschaften hinter sich lassen. Hier beginnt das, was Aristoteles Metaphysik nennt. Was erkennen wir überhaupt und was gibt es überhaupt? Auf den ersten Blick klingen solche Fragen unfassbar abstrakt. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppen sie sich einfach nur als die Fragen, bei denen man konsequenterweise landet, wenn man mit dem Fragen weitermacht.
Alle Philosophie habe damit begonnen, dass Menschen sich gewundert, gestaunt hätten. Fragen über die größten Rätsel gestellt hätten. Wer sich heute an den knapp 2.400 Jahre alten Text heranwagt, fühlt sich aus der Zeit herausgenommen. Er befindet sich in einem Gespräch, das über die Jahrhunderte dauert. Ob wir Menschen bei der Beantwortung der größten Grundfragen heute wirklich „weiter“ sind als Aristoteles, ist eine nicht unberechtigte Frage. Fest steht, dass sein kristallklares Denken, sein präzises Argumentieren bis heute beeindruckt. Es ist eine Freude, Menschen zu erleben, die klar denken. Und so ist es auch heute noch eine Freude, Aristoteles zu lesen. Jenen Philosophen, der im Mittelalter so unanfechtbare Autorität war, dass er von Thomas von Aquin schlicht „philosophus“ genannt wird: der Philosoph schlechthin. Dabei geht es um viel mehr als bildungsbürgerliche Marotten. „Nicht um herauszufinden, was dieser oder jener Philosoph gesagt hat, betreiben wir Philosophie, sondern um herauszufinden, was wahr ist“, so heißt es bei Thomas. Eine Haltung des Denkens, die zeitgemäßer nicht sein könnte.
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