Geniale Paare

„Komm‘, geliebte Gastgeberin!“

Die Balance von aktivem (vita activa) und kontemplativem Leben (vita contemplativa): Martha und Maria.
Martha und Maria
Foto: Wiki | Die Balance von tätigem und beschaulichem Leben überschreitet alle Psychologie in eine Überwirklichkeit. In Martha lebt der Himmel und kommt auf die Erde.

Vielerorts verliert sich die Kirche in hektischer Betriebsamkeit und kommt dabei gehörig außer Puste. Gott aber hat einen sehr langen Atem. Wie Durchatmen und Durchstarten in ein gesundes Gleichgewicht gebracht werden können, zeigen Martha und Maria. Sie waren enge Freundinnen Jesu. Ihr Haus in Bethanien bildete einen wichtigen Rückzugsort auf seinen Wanderungen. Im vertrauten Kreis der Schwestern und ihres Bruders Lazarus konnte er neue Kräfte für seine Arbeit als Prediger, Heiler und Exorzist sammeln. Gerade in hoher Verantwortung stehende Menschen brauchen Auszeiten. Ein Hirte, der den Augiasstall seiner Diözese reinigen will, muss zuvor seine Kräfte sammeln. Doch wie Ruhe finden in den Stürmen des Zeitgeistes? Eins ist not!

Musste der Tadel sein?

Martha und Maria sind das Urbild für die Balance von aktivem (vita activa) und kontemplativem Leben (vita contemplativa). Wenn Jesus zu ihnen kam, suchte er die Ruhe, gerade bei jenem Besuch, von dem Lukas (10, 38-42) berichtet. Mit dem erweiterten Jüngerkreis der Zweiundsiebzig hatte er Fragen der Vertreibung von Unholden besprochen. Das waren jene bösen Geister, die Menschen zu allerlei abscheulichen Dingen missbrauchten. Den Jüngern war es gelungen, diesem Missbrauch Einhalt zu gebieten. So stieß Jesus den berühmten Jubelruf aus: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz!“ (Lk 10, 18) Anschließend erzählte er das wichtigste Gleichnis vom tätigen Leben, die Geschichte vom barmherzigen Samariter, als seinem Ebenbild. Nun saß er im Haus der Schwestern auf dem Teppich. Während Martha geschäftig in der Küche hantierte, setze sich Maria ihm zu Füßen. Wir wissen nicht, worüber Jesus sprach. Gewiss war er noch erfüllt von der Begeisterung und Gewissheit: Menschen der Kirche werden sein Werk der Heilung erfolgreich fortsetzen. Den Unholden wird auch in Zukunft Einhalt geboten!

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Doch jetzt war die Zeit der stillen Einkehr. Da störte Marthas Geschäftigkeit wie ein mit Geschirr laut klappernder Catering-Service während der Messe. Martha aber wurde ihre Arbeit zu viel. Sie beschwerte sich bei Jesus: „Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll!“ Die Intensität einer Begegnung ist nicht abhängig von der Opulenz des Mahles  und einer erlesenen Weinliste. Jesus weist Marthas Begehren zurück: „Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“ Frisch Verliebte vergessen oftmals das Essen. Auch das Geschenk einer intensiven Begegnung lässt keinen Gedanken an Hunger aufkommen. Doch Martha hat es nur gut gemeint. Musste der Tadel sein?

Kluge Köpfe der kommenden Jahrhunderte haben das unterschiedliche Verhalten der Schwestern in die rechte Balance zu setzen versucht, allen voran ein Meister der deutschsprachigen Mystik. Meister Eckehart  (1260-1328) schuf mit seinen Predigten eine Sprache der Innerlichkeit. Zu seinen Wortschöpfungen gehört das Ideal der „Gelassenheit“. Damit ist keine Coolness gemeint, sondern eine Haltung der Kontemplation, die Gottes Wirken in der Seele zulässt, also Gott Gott sein lässt. Meister Eckehart sieht in den Schwestern zwei Stufen der religiösen Reifung. Marias Haltung ist ihm ein wenig zu selbstverliebt. „Sie begehrte, sie wußte nicht, wonach; sie wollte, sie wußte nicht, was.“ Deshalb wird sie von Martha aufgefordert, ins tätige Leben zu treten.

Keine Toleranz den Intoleranten!

Martha verkörpert das Ideal eines gesammelten kontemplativen Lebens in allen Tätigkeiten. Sie steht mitten in den Dingen, aber die Dinge stehen nicht über ihr. Auf diese Überwindung der Zeit kommt es dem Meister an. Sie ist jederzeit und an jedem Ort möglich, wenn sich Maria erhebt und die Erfahrungen des Retreat ins aktive Leben trägt. „Martha war so im Wesentlichen, dass alle Wirksamkeit sie nicht hinderte und dass alles Tun und alle Geschäftigkeit sie auf ihr ewiges Heil hinleitete. Maria mußte erst eine Martha werden, ehe sie wirklich eine Maria werden konnte.“
Bethanien ist ein Haus der Heilung von Körper, Geist und Seele. Bei einem weiteren Besuch wird Jesus den verstorbenen Bruder Lazarus wieder ins Leben rufen. In Bethanien findet auch die Himmelfahrt statt (Lk 24, 50ff.). Kein Wunder, dass spätere Generationen mehr über Martha und Maria erfahren wollten.

Nun war Maria der beliebteste weibliche Vorname. Moses Schwester Miriam hatte ihn getragen, die Mutter Jesu, Maria von Magdala und viele andere Frauen, deren Gestalt und Erfahrungen sich in der Legende von Martha und Maria zu einer großen Harmonisierung unterschiedlicher Erzählungen verdichtete. So geht die „Legenda aurea“ des Jacobus de Voragine davon aus, dass Maria gleichzusetzen sei mit Maria von Magdala. Die Bibel weiß davon nichts. Sie kennt auch nicht das weitere Schicksal der Geschwister. Die Legende erzählt von ihrer Vertreibung aus Bethanien. Am Saume des Mittelmeeres wurden sie in ein Boot gesetzt, aus dem man Ruder, Segel, Steuer und alle Lebensmittel entfernt hatte. Aus dem Todesurteil der Unholde wurde ein Gottesurteil. Die Geschwister trieben über das Meer und landeten im Rhone-Delta bei Marseille.

Bei der nun beginnenden Mission zeigt Martha jene Entschiedenheit des Auftretens, vor der Täter in die Knie gehen. Zwischen Arles und Avignon lebte ein Unhold. Er hatte schon viele Opfer missbraucht. Martha besiegte ihn in jener Gelassenheit, die wir heute vermissen. Sie kommt allein aus der Vollmacht wie das Beispiel der Zweiundsiebzig gezeigt hatte. Unaufgeregt doch unbeirrt besprengt Martha den Unhold mit Weihwasser und hält ihm ein Kreuz entgegen. „Da war er sogleich besiegt und stand da wie ein Schaf.“ Martha ist die erste Exorzistin der Kirchengeschichte. Wie sie nach der Bändigung dem Menschenschinder ihren eigenen Gürtel um den Hals bindet, hat Paolo de Uccello (1397-1475) ins Bild gesetzt und mit der Georgslegende verwoben. Keine Toleranz den Intoleranten! So lautet Marthas Devise. Gegenüber dem Täter kennt sie kein Pardon. Sie hält ihn für nicht resozialisierbar, denn das Böse liegt gleichsam in seiner DNA.

Die lange Nacht und das große Vergessen

In der Nachfolge ihres Freundes trieb sie nicht nur Dämonen aus, sondern rief einen Toten wieder ins Leben. Wer sagt, das sei unmöglich, kennt nicht die Wege des Herrn. Denn er ist es, der durch Martha einen in der Rhone ertrunkenen Jüngling rettet. Die Balance von tätigem und beschaulichem Leben überschreitet alle Psychologie in eine Überwirklichkeit. In Martha lebt der Himmel und kommt auf die Erde. Der Tod wiederum ist Heimkehr. Acht Tage vor ihrem eigenen Tod hörte sie die Engel singen. Maria war gestorben. Die Engelchöre („angelico choros“)  trugen ihre Seele in den Himmel. Daher kann sie bekennen: „O du allerschönste und von mir geliebte Schwester, lebe bei deinem Meister und meinem Gast in jenem seligen Wohnsitz.“
Der Tod ist für die Schwestern nur ein Umzug. „Komm‘, geliebte Gastgeberin!“ („Veni, delecta mea hospita.“), ruft daher Christus ihr im Sterben zu. „Du hast mich gastlich aufgenommen, ich werde dich in meinen Himmel aufnehmen, und die dich anrufen, werde ich aus Liebe zu dir erhöhen.“ Damit wird die Wirksamkeit der Fürbitte im Kampf gegen den Missbrauch unterstrichen. Eines der vielen Wunder am Grab der Martha war die Heilung des nierenkranken fränkischen Königs Chlodwig (466-511).

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Bethanien wurde ein beliebter Name für Krankenhäuser und Pflegeheime. Am Mariannenplatz in Kreuzberg stand das Diakonissen-Krankenhaus Bethanien. Zu ihm gehörte das Schwesternwohnheim Martha-Maria-Haus. Es ist in die unheilvolle Geschichte des deutschen Terrors eingegangen. Zu den Unholden jener bitteren Jahre gehörte der linksradikale Gewalttäter Georg von Rauch (1947-1971). Nach der Besetzung des Bethanien wurde das Martha-Maria-Haus in Georg-von-Rauch-Haus umbenannt. Rio Reiser (1950-1996) beschrieb die Okkupation in dem Lied „Rauch-Haus-Song“ und sang es begleitet von seiner Band „Ton, Steine, Scherben“. Aus Martha und Maria waren ferne Schwestern von gestern geworden, deren sich niemand mehr erinnerte. Die lange Nacht und das große Vergessen hatten begonnen. Doch die alte Legende und wir vertrauen auf die Fürsprecherin und ihren Freund im Himmel.

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