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Immer auf dem Sprung sein

Die Merkel-Jahre lehren es: Ohne Opposition schwächelt die Demokratie.
Oppositionsführer Friedrich Merz
Foto: IMAGO/Frank Hoermann / SVEN SIMON (www.imago-images.de) | In der Parlamentsdebatte im Plenarsaal hat die Regierung die Mehrheit, der Opposition bleibt nur das scharfe Wort, dringt es nicht durch, bleibt ihr nichts.

Demokratie ist kein Wert an sich. Demokratie ist eine von vielen möglichen Formen, einen Staat zu regieren. Selbst die Kirche legt sich nicht auf eine Staatsform fest, wie Benedikt XVI. am 22. September 2011 in seiner Rede im Deutschen Bundestag betonte. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen, so der Papst damals, habe das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben. Es hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen. Wenn wir nun aus Natur und Vernunft herleiten, demokratisch regiert werden zu wollen, ist das folglich legitim.

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Opposition lässt stark und frei werden

Obwohl wir in der westlichen Tradition die Worte freiheitlich und demokratisch gerne zusammen denken, ist das jedoch keine Selbstverständlichkeit. Die DDR war selbstverständlich eine Demokratie. In der Selbstbeschreibung nannte sich die DDR eine Volksdemokratie. Eine freiheitliche Demokratie war sie definitiv nicht. Die Weimarer Reichsverfassung bescherte uns im Jahr 1919 die freiheitlichste Verfassung in der deutschen und vielleicht sogar in der europäischen Geschichte. Sie scheiterte krachend an einem wesentlichen Mangel: Ihr fehlten die Demokraten. So wurde ihre Stärke pervertiert und damit zu einer unüberwindlichen Schwäche, denn auch die Feinde der Demokratie können sich äußerlich demokratisch legitimieren lassen, wenn ihnen keiner eine hinreichend starke Opposition bietet.

Es gibt also kein Naturgesetz, dass ein freiheitlicher Staat zwingend demokratisch oder ein demokratischer Staat unbedingt freiheitlich sein muss. Entscheidet sich ein Volk, sich eine demokratische Verfassung zu geben, dann braucht es zum Erhalt der Freiheit vor allem eine Kraft, die die Demokratie stark und frei werden lässt: die Opposition. Mag sie vor allem für die Regierung noch so ärgerlich sein, ohne sie geht es nicht. Wie man keinen Beton anrühren kann ohne Sand hinzuzugeben, so kann es keine funktionierende Demokratie ohne Opposition geben. Erst mit dem Sand wird der Beton stark. Erst mit einer Opposition, die ernsthafte Alternativen zur Regierungspolitik anzubieten hat, wird eine Demokratie stark und haltbar. Völlig zu Recht wurde das Wort „alternativlos“ im Jahr 2010 als Unwort des Jahres gebrandmarkt. Die damalige Bundeskanzlerin, Angela Merkel, bezeichnete ihre Politik der Bankenrettung als „alternativlos“.

Auch wenn sie später das Wort nicht mehr in der Intensität benutzte, sah sie ihre Politik bis zum Ende ihrer Regierungszeit immer noch genauso an, und sie wurde nicht zuletzt dadurch zu einer ernsten Gefahr für die Demokratie. Die Ex-Kanzlerin machte diese persönliche Haltung oft genug an ihrer verächtlichen Wortwahl für gesellschaftlich notwendige Debatten deutlich. So beschimpfte sie den Wunsch, die umstrittenen Coronamaßnahmen zu diskutieren als „Öffnungsdiskussionsorgien“. Die Respektlosigkeit der Kanzlerin gegenüber der verfassten Demokratie zeigte sich nicht zuletzt darin, plötzlich mit einem in der Verfassung gar nicht existierenden Gremium totalitär an allen Verfassungsorganen vorbei zu regieren. Es spricht für die Stärke unserer Verfassung und für die Existenz hinreichend vieler überzeugter Demokraten in diesem Land, dass daraus kein neues Regime wurde. Doch es war und es bleibt ein Spiel mit dem Feuer des Totalitarismus.

Ein Ausmerzen der parlamentarischen Opposition

Zu diesem Zeitpunkt existierte nämlich in der deutschen Bundespolitik schon lange keine ernst zu nehmende Opposition mehr. Die großen Koalitionen von 2005, 2013 und 2017 hatten dafür gesorgt, dass die alte und politisch produktive Rivalität der großen Volksparteien CDU/CSU und SPD fast vollkommen geschleift wurde. Die parlamentarische Opposition stellten plötzlich „Die Linke“ und die „Alternative für Deutschland (AfD)“. Da die Bundeskanzlerin selber grüne Politik machte, war „Bündnis 90/Die Grünen“ kaum noch eine ernsthafte Oppositionspolitik möglich. Die „FDP“ hatte sich in den Jahren 2009 bis 2013 politisch unmöglich gemacht und flog aus dem Parlament.

Man erkennt leicht, auf welchen Wegen „Alternativlosigkeit“ zum neuen parlamentarischen Prinzip erhoben wurde. Es war ein Ausmerzen der parlamentarischen Opposition. Nennt sich dann eine neue Partei, die sich zur Sammelbewegung der jeweils Frustrierten mausert, ausgerechnet „Alternative“, so darf diese Partei als ein leibliches politisches Kind der Kanzlerin angesehen werden. Die Opposition als politisches Prinzip bricht sich auch in einer kränkelnden Demokratie Bahn. Verbleibt sie eine kränkelnde Opposition, ist sie nur begrenzt nützlich. Auch wenn die „Alternative“ sich selbst „die andere Möglichkeit“ – nichts anderes bedeutet das Wort – in den Namen schreibt, so bedeutet dies noch lange nicht, dass sie wirklich eine Möglichkeit wäre oder eine andere Politik zu präsentieren hätte.

Die AfD erfüllt derzeit nur eines der Prinzipien der Opposition wirklich gut: Sie ist ein Stachel im Fleisch der Regierung. So manche Rede von Alice Weidel oder Beatrix von Storch lassen einen ratlos zurück. Perfekte Analyse, politische Alternative Fehlanzeige. So manche kleine Anfrage deckt Peinlichkeiten der Regierung auf. Recht zu haben, ist und bleibt von jeglicher sonstigen Gesinnung unabhängig, das muss man auch der AfD zugestehen. Selbst Redebeiträge von Politikern der Linken mag man noch das Korn zubilligen, das auch ein blindes Huhn zuweilen findet. Opposition ist das noch lange nicht.

Wer die Reden des gegenwärtigen Fraktionsvorsitzenden der CDU, Friedrich Merz, hört, sehnt sich aus mehreren Gründen nach Franz-Josef Strauß zurück. Nicht nur der Unterhaltungswert war weitaus größer, mit scharfen Worten und messerscharfem Sachverstand jagte der CSU-Politiker die sozialdemokratischen Regierungen der Kanzler Brandt und Schmidt. Man achte den Unterhaltungswert nicht zu gering. In der Parlamentsdebatte im Plenarsaal hat die Regierung die Mehrheit, der Opposition bleibt nur das scharfe Wort, dringt es nicht durch, bleibt ihr nichts. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als müsse in der „Nach-Groko-Zeit“ das Parlament das Konzept von Opposition erst wieder neu erlernen. Also bitte gerne mal etwas frischer und frecher, Herr Oppositionsführer.

Der tiefste Kern der Oppositions-Funktion

Das frisch geschwungene Wort allein macht jedoch noch lange keine Opposition. Es kommt auch auf die Sachkenntnis an. Daran mangelt es dem Juristen und alten Hasen der Politik sicher nicht. Es in seiner Fraktion abzurufen und die Regierung zu jagen, daran fehlt es noch. Hier lohnt ein Blick ins Mutterland der Demokratie. In Großbritannien sitzt dem Kabinett im Parlament ein Schattenkabinett gegenüber. Dessen Existenz erhält seinen primären Sinn aus der Tatsache, dass die Vorbereitungszeit auf Wahlen im Vereinten Königreich deutliche kürzer ausfallen als in Deutschland. Die Oppositionspartei muss sozusagen immer auf dem Sprung sein, einen Wahlkampf zu führen. Die Folge daraus ist eine Opposition, die der Regierung in allen Belangen sachorientiert das Gegenspiel halten kann. Man verwechsele dabei nicht das parlamentarische Schaulaufen im Plenarsaal mit der wirklichen Oppositionsarbeit in den Ausschüssen. Die sich dort gegenüber sitzenden Fachpolitiker aller Couleur sind auf Gedeih und Verderb auf den Sachverstand der jeweils anderen angewiesen.

Die Expertise im Kleinen, also im Ausschuss, muss aber flankiert werden von Expertise in der großen Politik, also im Plenum. Eine Schattenminister muss so gut sein, dass er jederzeit das Amt vom derzeit amtierenden Minister übernehmen kann. Es gab in der Vergangenheit und gibt es vielleicht noch auch in den Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag Fachpolitiker, die es jederzeit mit dem gerade amtierenden Minister aufnehmen könnten. Man sollte sie nicht zu sehr bremsen.

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Hier findet sich nämlich der tiefste Kern der Funktion der Opposition. Keine Regierung, egal welcher Couleur, ist nur gut oder nur schlecht. Während in letzten Dingen die Wahrheit nur im Singular existiert, haben wir in vorletzten Fragen eine große Bandbreite, die wir in Freiheit, im Einklang mit der Natur und der daraus gewonnenen Vernunft entscheiden können und sollen. Diese Bandbreite gilt es, entscheidet man sich für eine demokratische Willensbildung, in der Debatte auszuloten und auszudiskutieren. Dabei kommt es letztendlich auf Argumente an, nicht auf Parteibücher. Zudem gilt es aktuell unbedingt aus dem Modus der Krisenpolitik herauszukommen. Die Krise ist anfällig für die Antidemokratie, schreit sie doch nach der starken Hand, um sie zu bewältigen. Seit 2005 hat man die Krise zu sehr lieben gelernt und zum Prinzip erhoben, doch es ist längst nicht alles Krise, was man gerne so nennen möchte. Gute Opposition kann auch helfen, Alarmismus und überbordende Krisenrhetorik zu bremsen.

Die Ära der Alternativlosigkeit, die in ihrem innersten Kern nichts anderes ist als die Ära Oppositionslosigkeit hat bereits mit der ersten der drei jüngsten „Großen Koalitionen“ im Jahr 2005 ihren Anfang genommen. Aktuell strebt diese Phase jedoch mit Wokismus, Cancel Culture und staatlich geförderter Denunziation von oppositionellen Ansichten in Deutschland langsam einem schmerzhaft freiheitsfeindlichen Höhepunkt zu. Das muss in Gestalt einer hörbaren und sichtbaren Opposition unbedingt ein baldiges Ende finden. Die Alternative wäre neben dem Ende der Freiheit auch das Ende einer Demokratie, die sich zu Recht so nennen dürfte.

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