„Früher war alles besser“ – in Zeiten von Krieg, Klimawandel und steigender Armut vernimmt man immer häufiger diesen Spruch, der vielleicht so alt wie die Menschheit selbst ist. Gerade dann, wenn die Zukunftsaussichten mager und die Gegenwart bitter anmuten, hat er Hochkonjunktur. Ungeachtet dessen wissen die Aufgeklärten: Richtig war er wohl nie. Denn der stete Fortschritt, dessen Sinnhaftigkeit wir in wohlfeiler Kulturkritik beim Dinner mit Freunden allzu gern infragestellen, trug in vielerlei Hinsicht zur Schaffung eines würdigen Daseins bei. Wer sich nach einer goldenen Ära sehnt, den kann man also nur als naiv bezeichnen, oder?
Die Nostalgie richtet unseren Fokus auf das Schöne
Naja, nicht ganz. Denn selbst die Nostalgie hat ihre Funktion. Nämlich von einem glänzenden Gestern zu träumen, das es so nie gab, vermag uns innerlich zu stabilisieren. Die imaginäre Rückbesinnung hält uns aufrecht und veranschaulicht, dass es sich lohnt, bestimmte, möglicherweise auch noch sehr ferne Ziele weiterzuverfolgen. Und da diese Bewegung ihren Anlass in einer als defizitär empfundenen Gegenwart hat, kann sie uns sogar zu utopischem Denken stimulieren, stellen doch die lediglich in die Geschichte zurückprojizierten Welten nichts anderes als Konstruktionen idealer und heiler Welten dar.
Gesellschaftlich kommt diesem vermeintlich blauäugigen Impetus somit durchaus eine wichtige Rolle zu. Aber auch auf individueller Ebene erfüllt die rückwärtige Verklärung einen nicht zu unterschätzenden Zweck. Sie leistet – ganz im Sinne der Psychohygiene – einen Beitrag zur gesunden Verdrängung. Dürfte wir keinen Unrat in unserer Seele zur Seite schieben, würden wir über keinerlei Konzentration mehr verfügen. Unsere gesamte Kognition wäre durch eine kaum aushaltbare Gleichzeitigkeit der Prozesse gelähmt. Darüber hinaus schützt uns die Finsternis ausblendende Brille davor, nicht an all den im Laufe der Zeit entstandenen Wunden zugrunde zu gehen.
Die Nostalgie, einschließlich der mit ihr verwandten Verdrängung, richtet unseren Fokus auf das Schöne. Sie erweist sich als das unterschätzte Bollwerk gegen die Binse „Alles wird immer schlechter“. Sowohl sie als auch die Phrase von den ach so guten, alten Zeiten – sie beide beruhen in ihrer Zuspitzung letztlich nur auf Chimären.
Eine notwendige Renaissance
Sie zu widerlegen, macht wiederum einen zentralen Kern des Menschseins aus: ihr Handeln. Der Wert der Nostalgie bemisst sich am aktiven Streben, das sie entfaltet. Ein Beispiel: Lange schien die Friedensbewegung allein zur lieblichen Denkfigur zu dienen. Heute spüren wir hingegen, wie notwendig ihre Renaissance ist. Vorbilder – so bunt und unkonventionell die Stereotypen aus den 50er und 60er Jahren auch daherkommen – werden dieser Begründung, die allmählich im Entstehen ist und einen Gegenstandpunkt zur allgemeinen Aufrüstung des Westens formuliert, nicht schaden, sondern ihr mit Sicherheit weitere Konturen geben.
Nostalgie, verstanden als Element der Hoffnungsstiftung, solidarisiert. Denn es ist leichter, sich auf ein scheinbar glückvolles Gestern zu einigen als auf eine von allen geteilte Zukunftsvision. Leiten sollte uns dieser ewige Blick zurück gewiss nicht, aber er kann durchaus einen Anfang für jede Hinwendung zum Neuen bieten.
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