Der Begriff „Gesamtkunstwerk“ wird gemeinhin Richard Wagner zugeordnet, zuerst erwähnt wird er aber bereits 1827 vom Schriftsteller und Philosophen Eusebius Trahndorff. Wagner verwendet ihn 1849 in seiner Schrift „Die Kunst und die Revolution“. Geht es ihm dort noch um die antike Tragödie, so weitet er den Begriff in „Das Kunstwerk der Zukunft“ am Beispiel des Musiktheaters aus – alle Künste sollten gleichberechtigt auf der Bühne zum Ausdruck kommen, wobei sie sich der dramatischen Idee unterzuordnen hatten: „Das große Gesammtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesammtzweckes aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, – dieses große Gesammtkunstwerk erkennt er nicht als die willkürlich mögliche That des Einzelnen, sondern als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft.“
Einzug neuer technischer Möglichkeiten
Wagners Utopie entsprang dem romantischen Revolutionärsgeist jener Zeit, so wollte er seine eigenen Opernwerke verstanden wissen. Das Ergebnis können wir noch immer bestaunen, bei aller höchst unterschiedlichen Herangehensweise der Regisseure. In den vergangenen Jahren hat sich die Begrifflichkeit stark verändert. Mit dem Einzug neuer technischer Möglichkeiten wurden Theater- und Musikbühnen zum Experimentierfeld technologischer Spielereien, zeitweilig kam kaum eine Inszenierung ohne Videobegleitung aus, und inzwischen gibt es Aufführungen, die sich wie im Kino nur mit einer 3D-Brille erschließen.
Der (Ost)Berliner Theater- und Opernregisseur Frank Castorf zählt zu den Pionieren der medialen Verstärkung und Brechung seiner Bühnenkunst. Seit vielen Jahren adaptiert er Romanvorlagen für das Theater, darunter 2002 die bemerkenswerte Inszenierung von Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“, dem epochalen Moskauer Schlüsselroman der 1920er Jahre.
Darin verwandelt der geschmähte Dichter die Stadt in ein Gruselkabinett voller Korruption und Gottesbeweis-Debatten, er lässt auch den Teufel auftreten und schickt alle, die ihm jemals etwas zu Leide getan haben, in die Irrenanstalt. Es ist aber auch durch die Einblendung der Leidensgeschichte Jesu, der Auseinandersetzung des jungen Mannes von Nazareth mit dem Diktator Pontius Pilatus, ein Diskurs über die Unvereinbarkeit von Macht und Wahrheit. Castorfs exzessiver Kameraeinsatz inklusive Videowand illustriert die Zeitsprünge durch Jahrtausende, die Ortswechsel zwischen Jerusalem und der stalinistischen Sowjetunion und die großen Bulgakowschen Zauberszenen im satanischen Varieté. „I want to believe“ leuchtet ein Neon-Schriftzug das Motto des Spiels emblematisch ins Dunkel. Der Satz gilt bei Castorf weniger Gott als vielmehr der Ästhetik: der Regisseur findet Realität, wo er den Bühnenrealismus hinter sich lässt. Diese Herangehensweise funktioniert nicht in jeder seiner Arbeiten – hier war es gelungen.
Inszenierung ist fast unfreiwillige Komik
Nicht ganz so schlüssig wurde ein völlig anderes „Crossover“-Projekt im vergangenen Jahr an der Deutschen Oper Berlin gezeigt: „7 Deaths of Maria Callas“ von der Performancekünstlerin Marina Abramović. Wenn sich die berühmteste lebende Performerin auf der Bühne mit ihrem Idol Maria Callas vereinigt, indem sie die sieben Bühnentode der Primadonna Assoluta nachstellt, dann hat das zunächst etwas Verführerisches. Während des ersten Teils der 100-minütigen Aufführung liegt Marina Abramović für eine gute Stunde absolut regungslos im Bett, wächsern, wie dahingeschieden. Ihre starre Präsenz beherrscht die nicht gerade Ereignisarme Bühne, in deren Hintergrund eine riesige Leinwand mit wechselnden dräuenden Wolkenformationen, Donner und Blitz auf das Kommende hinlenkt, untermalt von poetischen Texten, pathetisch raunend vorgetragen von der dunklen, hypnotischen Stimme der Künstlerin.
Die sieben Todesarien werden von Sopranistinnen gesungen, während Marina Abramović auf der Leinwand alle Bühnentode persönlich stirbt, filmisch begleitet vom Schauspieler Willem Dafoe, der die notwendigen männlichen Rollen übernimmt – ein zarter und doch kraftvoller sensibler Gegenpart zu der statuarischen Schmerzensgestalt. Im zweiten Teil verlässt Marina Abramović das Bett, schleppt sich mühsam durch das Schlafgemach (der letzten Wohnung Maria Callas‘ in Paris, in der sie 1977 mit 53 Jahren an einem Herzinfarkt starb), zerschmettert noch eine Vase und verlässt den Raum. Auch in diesem Fall ist die filmische Illustrierung grundsätzlich sinnvoll, allerdings gerät die hochpathetische emotionsgeladene Inszenierung durch die Nahaufnahmen der schmerzensreichen Gesichtszüge in die Nähe der unfreiwilligen Komik. Dennoch oder gerade deshalb: das Publikum war hingerissen.
Ein aktuelles Beispiel aufs Schönste gelungener „interdisziplinärer“ Bühnendarstellung zeigt das Berliner Staatsballett mit seiner Aufführung der „Messa da Requiem“ von Giuseppe Verdi, inszeniert und choreographiert von Christian Spuck, dem designierten Intendanten des Staatsballetts. Diese Arbeit kommt völlig ohne mediale Begleitung aus, die Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich auf der fast leeren Bühne in verschlungenen Arabesken, ohne das Geschehen zu dominieren, das von der Wucht der Musik beherrscht wird. Der fantastische Rundfunkchor Berlin und die vier Solisten (Sopran, Mezzosopran, Tenor und Bass) folgen dem Orchester der Deutschen Oper unter seinem Dirigenten Nicholas Carter in den Olymp der musikalischen Gestaltung.
Das ewige Licht leuchte ihnen
Man kann sich natürlich fragen, ob es den Tanz braucht zur Untermalung des gewaltigen Requiems – nein, braucht es nicht notwendigerweise, Musik und Text dieses existenziellen Werks stehen für sich – und doch gelingt es hier, die Trauer und die Auseinandersetzung mit der Macht des Todes zu veranschaulichen. Christian Spuck geht es nicht um die religiöse Deutung des Textes, sondern um die großen Fragen des Menschseins: „Der Mensch blickt auf sich selbst im Angesicht des Todes, und ich glaube, in diesem Sinne hat der kirchenkritische Verdi sein Requiem auch komponiert. Er verwendet zwar den lateinischen Text aus der katholischen Liturgie, aber seine Totenmesse hat weltlichen Charakter und ist keine heilige Messe im kirchlichen Sinne. (...) Er zielt vielmehr auf das allgemein Menschliche als auf die konkrete religiöse Botschaft des Textes.“
Das ist sicher eine Frage der Interpretation. Aber auch der kirchenferne Choreograph weiß um die „emotionalen Urkräfte“, die das Requiem in sich trägt: „Das Werk ist allgemeingültig. Es spricht jeden Menschen an, egal, welchem Glauben und welcher Weltanschauung er angehört.“ Das gilt für die Musik. Der Text hingegen ist nun einmal katholisch (und Verdi hat die Musik ja auf eben diesen Text komponiert), den kann man nicht so ohne weiteres in andere Religionen übertragen. Aber: „das ewige Licht leuchte ihnen“ ist eine wunderbar tröstliche Botschaft, die jeder Besucher dieser grandiosen Aufführung gespürt haben dürfte. Hier findet eine geistige und physische Durchdringung von Musik, Text und Tanz statt, die tief berührt.
Wenn „hybride Bühnenkunst“ sich derart am Werk ausrichtet und an dem, was es vermitteln will, dann hat sie ihre Berechtigung. Geht es den Regisseuren jedoch mehr um ihre egoistische Befindlichkeit, also darum, sich in erster Linie durch ein „immer mehr, höher, weiter, bunter“ abzuheben von den vielen Konkurrenten, wird der Zuschauer schnell übersättigt. Die Sehnsucht nach einem überweltlichen Sinn des Lebens ist in unserer von existenziellen Krisen geprägten Zeit größer denn je.
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