Philosophie

Gabriel Marcel: Denker von Existenz und Transzendenz

Der Mensch befindet sich nach Gabriel Marcel in einem Gegenüber zu Gott. Der französische Philosoph war ein Denker von Existenz und Transzendenz.
Gabriel Marcel, französische Philosoph
Foto: IMAGO (www.imago-images.de) | Gabriel Marcel (rechts) sieht den Menschen als ein Wesen an, das sich selbst entfalten und entwerfen muss: Der Mensch entwirft sich auf ein Ziel hin.

Der Lebensweg des Philosophen und Literaten Gabriel Marcel begann in einem nicht besonders religiös geprägten Umfeld. Er wurde am 7.12.1889 in Paris in einem nicht praktizierenden jüdischen Elternhaus geboren. Sein Vater hatte eine sehr gute Position in der staatlichen Verwaltung inne, so dass es dem jungen Gabriel, der einziges Kind seiner Eltern blieb, an nichts fehlte. Jedoch verlor er seine Mutter mit gerade erst vier Jahren. Ein tiefer Einschnitt, den Gabriel nur mit Mühe verkraften konnte. Nach einer fundierten Schulbildung studierte Gabriel Marcel an der Sorbonne Philosophie. Er war in dieser Zeit Atheist. 1907 schloss Marcel die licence en philosophie an der Sorbonne ab, 1910 erfolgte die staatliche Prüfung, die agrégation. Dem üblichen Weg folgend war Gabriel Marcel in den Jahren 1912 bis 1918 Gymnasiallehrer in Vendôme und Paris.

Erst im Spätwerk die Wendung gegen Sartre

Während des Ersten Weltkriegs war er auch in einem Verwaltungsdienst tätig, wobei er die Vermisstenkartei bearbeitete. Zum Frontdienst wurde er aus gesundheitlichen Gründen als untauglich eingestuft. Im ersten Kriegsjahr, 1914, begann Marcel seine Arbeiten am „Journal Métaphysique“, das 1927 erstmals veröffentlicht wurde. Unter dem Titel „Metaphysisches Tagebuch“ erschien das Werk, auf das später noch eingegangen wird, 1955 in einer deutschen Übersetzung von Hanns von Winter. 1918 heiratete Gabriel Marcel seine Frau Jacqueline Boegner; das Paar adoptierte einen Sohn.
Entscheidendes geschah im Jahr 1929: Gabriel Marcel konvertierte, beeinflusst durch die bekannten Intellektuellen Charles Du Bos und François Mauriac, zum katholischen Glauben. Marcel war in diesen Jahren in Sens und Montpellier als Philosophielehrer tätig sowie als Lektor und Theaterkritiker. In seinen Pariser Runden am Freitagabend lud Marcel namhafte Philosophen seiner Zeit ein, unter ihnen auch den jungen Emmanuel Levinas oder Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir.

Wenn wir einen Blick auf das Werk von Gabriel Marcel werfen, fällt auf, dass es einen großen Anteil an Theaterstücken gibt: 28 Dramen umfasst die Bibliographie, darunter „Le monde cassé“ (Die zerbrochene Welt, 1933). Marcel schrieb indes auch genuin philosophische Werke zum Existenzialismus christlicher Richtung, wobei Einflüsse durch Sören Kierkegaard, Henri Bergson und Karl Jaspers deutlich spürbar sind. Sartre zählte Marcel mit Jaspers zu den „christlichen Existenzialisten“. Umgekehrt prägte Gabriel Marcel viele Existenzdenker seiner Generation wie den Theologen und Literaten Henri Petiot, der meist unter dem Pseudonym Daniel-Rops schrieb, oder auf deutscher Seite Peter Wust. Marcel sah sich als einen „Neo-Sokratiker“ an, für den die „cura sui“, die Selbstsorge, eine zentrale Rolle spielte. Ganz unterschiedliche französische Intellektuelle, unter ihnen Michel Foucault, griffen dieses Motiv der Selbstsorge ebenfalls auf. Gabriel Marcel gehörte ferner der Bewegung des „Ordre nouveau“ (Neue Ordnung) an, die eine am Naturrecht orientierte Gesellschaftsordnung favorisierte. Nach 1945 hielt Marcel, anders als viele andere Intellektuelle, zahlreiche Vorträge auch im Nachkriegsdeutschland.

Lesen Sie auch:

Der Mensch muss sich finden

Preise und Auszeichnungen blieben nicht aus, so 1948 der Große Literaturpreis der Académie française. In den Jahren 1949/50 hielt Marcel die angesehenen Gifford Lectures in Aberdeen, die er unter dem Titel „Le mystère de l'etre“ (Geheimnis des Seins) 1951 als Buch vorgelegt hat. 1952 erfolgte die Wahl in die Académie des sciences morales et politiques. Fast zehn Jahre später, 1961/62, hielt Marcel die renommierten William James Lectures an der Harvard-Universität. Sie mündeten 1963 in die Veröffentlichung „The Existential Background of Human Dignity“ (Die Menschenwürde und ihr existenzieller Grund). Aufgrund seines vielfältigen Wirkens in der Bundesrepublik wurde Gabriel Marcel 1964 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. In den Jahren danach stand Marcel weiter als Intellektueller in der europäischen Öffentlichkeit, bevor ihn am 8.10.1973 in Paris der Tod ereilte.

Die Rezeption von Marcels Denken in Deutschland begann bereits recht früh: 1949 schrieb Marcel Reding aus kritisch-systematischer Sicht über „Die Existenzphilosophie“ bei Heidegger, Sartre, Gabriel Marcel und Jaspers. Im Todesjahr von Marcel, 1973, veröffentlichte Vincent Berning „Das Wagnis der Treue. Gabriel Marcels Weg zu einer konkreten Philosophie des Schöpferischen“. Dieser umfangreichen Interpretation fügte Marcel selbst noch einen Geleitbrief hinzu, in dem er an die Grundlinien seines Denkens erinnerte.

Gabriel Marcels Philosophie ist im Wesentlichen als eine Suche mit Ziel zu charakterisieren. Der Mensch muss sich finden in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt. Doch es ist eine Suche, die sich eines Zieles sicher sein kann: der Transzendenz, Gott. Die Entfremdung des Menschen in einer rein verzweckten Welt sah Marcel mit Sorge. Die Hinwendung zum Du im personalen Gegenüber, wie sie in der Dialogphilosophie eines Martin Buber und Franz Rosenzweig, später auch bei Emmanuel Levinas zum Ausdruck kommt, und die Zuwendung zum Anderen in der Transzendenz sind bedeutender als die materielle Befriedigung und Einordnung des Menschen. Für den modernen Menschen wird jedoch Haben wichtiger als Sein („Être et avoir“, Sein und Haben, 1935). Er verliert dadurch das Gespür für das unverfügbare Geheimnis des Seins im Transzendenten („Le mystère de l'être“, Geheimnis des Seins, 1951). So ordnet sich der Mensch von heute willig im Materiellen ein und ihm unter. Er sieht sich vor allem als Problem („L'homme problematique“, Der Mensch als Problem, 1955), zu dem es keine Lösung gibt, und nicht mehr als Geschöpf, das im Leben unterwegs ist und hoffnungsvoll einer ewigen Heimat zuwandert („Homo viator. Philosophie der Hoffnung“, 1949). In seinem Denken gibt Gabriel Marcel eine christliche Antwort auf Sartres Existenzialismus, wie dieser zu Recht erkannt hat.

Das Ich existiert für ihn konkret

Doch nun zurück zu Marcels „Metaphysischem Tagebuch“ (1927, dt. 1955). Er unterscheidet darin klassisch zwischen „Es gibt …“ und „Es existiert …“: „Einzig die Struktur unserer Sprache nötigt uns die Frage auf, ob es ,etwas‘ gebe, das Existenz besitzt: in Wirklichkeit sind Existenz und existierende Sache gewiss nicht auseinanderzuhalten; wir haben eine – wirkliche oder nicht wirkliche – unzerstörbare Synthese vor uns, welcher der Zweifel nichts anhaben kann; da gibt es, so könnte man sagen, keinen ,Zwischenraum‘, keine ,Fuge‘, in die er [der Zweifel] seinen Keil hineintreiben könnte.“ (Metaphysisches Tagebuch, dt. 1955, S. 429)

Marcel verdeutlicht, dass es der Mensch selbst ist, der existiert, sein Leben vollzieht und nicht bloß da ist. Durch sein Dasein geht der Mensch über ein „Es gibt“ weit hinaus. Er ist selbst seine Existenz, sein Dasein und vollzieht es in seinem Leben. Wie später bei Robert Spaemann ist der Mensch für Marcel kein „etwas“, sondern „jemand“, eine Person, die im Mitsein mit anderen Personen ihr Leben vollzieht.

Ohne in einen seichten Monismus abzugleiten, denkt Marcel die Einheiten von Sein und Existenz sowie von Ich und Selbst: „Die Aussage ,ich existiere‘ ist nur dann zulässig, wenn zuvor erkannt wird, das ,Ich‘ bedeute hier nicht das üblicherweise verstandene ,Selbst‘; es sei nicht ein – selbst auf ein Mindestmaß gebrachter – Inhalt oder ein psychologisches System; und es kann auch keine Rede davon sein, dieses existierende ,Ich‘ etwas anderem gegenüberzusetzen, das nicht existierte.“ (Metaphysisches Tagebuch, S. 432) Das Ich existiert für Marcel konkret. Es ist kein abstraktes Selbst oder bloße Psyche. Es ist ein personales Ich, das sein Sein lebendig im Kontext des anderen Ichs vollzieht, das bewusst lebt und sich nicht in einer starren Theorie einfangen lässt.

Lesen Sie auch:

Als Intellektueller zwischen verschiedenen Welten

„Die Gewissheit“, heißt es bei Marcel weiter, „deren Natur wir hier bloßzulegen bemüht sind, kann kein abstraktes Merkmal betreffen, ebenso wenig übrigens ein ,Dies‘, dem dieser Charakter zugehörte, sondern allein die unlösbare ,Einheit von Existenz und Existierendem‘. Eine dichtgefügte Gewissheit, die sich, wie wir sahen, nicht ohne Fährnis zerteilen lässt.“ (Metaphysisches Tagebuch, S. 431) Noch einmal betont Marcel die dicht gefügte Einheit der Existenz. Das Existierende, das Leben, die Person lassen sich nicht ohne weiteres von ihrer Existenz und nicht weniger von ihrer Existenz- und Seinsquelle im Transzendenten trennen. Ja, Marcel sieht in einer solchen Trennung sogar eine Gefahr, eine „Fährnis“, da das existierende Ich, die Person, dann verfügbar und funktionalisiert wird. Das Ich gehört sich dann nicht mehr selbst, sondern steht unter einer fremden, manipulativen Einflusssphäre. Auch der Freiheit geht das Ich dann verlustig.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass sich nach Gabriel Marcel der Mensch auf ein Ziel hin entwirft. Marcel sieht den Menschen als ein Wesen an, das sich selbst entfalten und entwerfen muss. Doch dies geschieht – gegen Sartre – in einem ausgespannten Freiheitsraum zwischen eigenem Leben und Transzendenz. Der Mensch findet seinen Weg nicht erst im Gehen, sondern ist, anders als bei Camus, immer auf ein Ziel hin orientiert und nicht vom Absurden umringt. Der Mensch findet sich bei Marcel – mit Levinas – in einer Situation des Gegenübers vor. Dies ist auch eine Situation des sprachlichen sich-Verstehens mit einem Du. Es könnte dabei in einer vorschnellen Deutung die Gefahr des Verkennens des großen Anspruchs der Freiheit bestehen, die auch für Marcel eine Herausforderung ist und bleibt, der sich ebenso die Christen mit allem Ernst stellen müssen.
Gabriel Marcel stand als Intellektueller zwischen verschiedenen Welten: Judentum und Christentum, Frankreich und Deutschland, Kriegs- und Nachkriegszeit. All diese Erfahrungen sind subtil in sein literarisches und philosophisches Werk eingeflossen, das für uns von bleibender Bedeutung ist.

Der Autor lehrt als außerplanmäßiger Professor der Philosophie an der LMU München.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Hans Otto Seitschek Christen Emmanuel Levinas Franz Rosenzweig Gabriel Marcel Hans Otto Henri Bergson Jean-Paul Sartre Karl Jaspers Kriegsjahre Martin Buber Michel Foucault Robert Spaemann Simone de Beauvoir William James

Weitere Artikel

Künftig könnten für hirntot erklärte Frauen Leihmütter ersetzen. Das schlug kürzlich die Bioethikerin Anna Smajdor von der Universität Oslo in der Zeitschrift „Theoretical Medicine and ...
23.03.2023, 19 Uhr
Stefan Rehder

Kirche

Das ZdK glaubt, in der Absage des Heiligen Stuhls zu Laientaufe und Laienpredigt ein Interesse Roms an Zielsetzungen des Synodalen Weges zu erkennen.
31.03.2023, 15 Uhr
Meldung
In der 23. Folge des „Katechismus-Podcasts“ der „Tagespost“ spricht Margarete Strauss von der Einheit zwischen Altem und Neuen Testament.
31.03.2023, 14 Uhr
Meldung
Der Vatikan schreibt erneut an den DBK-Vorsitzenden Bätzing und erteilt zentralen Synodalforderungen eine Absage. Der Sprecher der Bischöfe betont, im Gespräch bleiben zu wollen.
30.03.2023, 16 Uhr
Meldung