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„Erschossene Wiedergeburt“

Die Ausstellung ANTITEXT in Lwiw/Lemberg dokumentiert die sowjetischen Untaten an ukrainischen Schriftstellern.
Lontsky Gefängnis in Lwiw: Ausstellung ANTITEXT
Foto: Sabine Gudath (www.imago-images.de) | Zellen im Lontsky Gefängnis in Lwiw, das heute als Mahnmal und Erinnerungsstätte an die Sowjetzeit dient: Am 13. Mai wurde hier die Ausstellung ANTITEXT eröffnet.

Der Krieg in der Ukraine geht weiter – umso wichtiger ist es, dass dabei auch das kulturelle Leben nicht zum Erliegen kommt. Einen wichtigen Beitrag dazu liefert die Ausstellung ANTITEXT im Museum „Gefängnis Lontskogo“ in Lwiw/Lemberg, die am 13. Mai eröffnet wurde. Ein symbolischer Ort – in der Epoche des Kommunismus wurden dort die politischen Gefangenen inhaftiert. ANTITEXT dokumentiert dementsprechend die systematische Unterdrückung der ukrainischen Literatur in der kommunistischen Sowjetunion.

Blütezeit ukrainischer Kultur

Die Wiedergeburt der ukrainischen Staatlichkeit nach 1917 hatte im Land zu einer kulturellen und literarischen Blüte geführt. Anfang der 1920er Jahre entstanden zahlreiche ukrainisch-sprachige Verlage, Zeitschriften und literarische Gruppierungen. In diesem Zusammenhang wurde auch das Literaturmuseum in Charkiw gegründet, um die kulturellen Bestände zu sammeln und zu sichern. Dieses Museum ist auch der Organisator der jetzigen Ausstellung in Lemberg. Wegen des ungleich heftigeren Kriegsgeschehens in der Ostukraine ist man ins westlichere Lwiw ausgewichen. Außerdem sahen die Veranstalter sich genötigt, auf originale Exponate zu verzichten – aus Furcht vor den russischen Zerstörungen und Plünderungen gerade auch des ukrainischen Kulturgutes, wie an anderen Stellen mehrfach geschehen. Die meisten Originale sind längst ausgelagert in (hoffentlich) sichere Örtlichkeiten.

Im Literaturmuseum von Charkiw ist die kurze Blütezeit der ukrainischen Kultur ausführlich dokumentiert. Charkiw war damals nicht nur die Hauptstadt der sozialistischen Ukraine. Hier war auch das Zuhause der künstlerischen Avantgarde. Die Architektur der Stadt gibt bis heute davon Zeugnis. Der kurzen Zeitspanne künstlerischer und literarischer Blüte folgte bereits in den 1930er Jahren die wüste Zeit des stalinistischen Terrors. Dafür wurde der Begriff „Erschossene Wiedergeburt“ geprägt. Auch die Erinnerungen daran sind  in diesem Museum festgehalten. Der Verlust an Menschenleben damals war ungeheuerlich. Um 1930 waren in der Ukraine 259 Schriftsteller erfasst worden, die Bücher veröffentlichten. Nach 1936 waren davon gerade noch 36 übrig geblieben. Und der Rest? 17 wurden erschossen, 8 nahmen sich das Leben, 175 verschwanden in Konzentrationslagern, 16 waren ins Exil gegangen oder verschollen. Gerade mal 7 sind eines natürlichen Todes gestorben.

Hinter diesen Zahlen verbirgt sich mehr als die Tragödie der Literatur einer Sprache und eines Landes. Die Vernichtung der schriftstellerischen Elite durch den Moskauer Kommunismus bedeutete den Versuch, eine ganze Kultur auszulöschen und ungeschehen zu machen. Als ein Beispiel für viele andere, die die Lemberger Ausstellung ANTITEXT vor Augen  führt,  sei nur der Dichter Oleksa Wlysko genannt, 1908 geboren. „Ukrainischer Puschkin“ wurde er genannt und später „Sturmvogel der Erschossenen Wiedergeburt“. Er war einer der ersten Schriftsteller gewesen, die den Zusammenbruch des bolschewistischen Regimes prophezeit hatten und gehörte deshalb zu den ersten 28 ukrainischen Schriftstellern und Künstlern, die im Januar 1934 hingerichtet wurden. Der seit seinem vierzehnten Lebensjahr taubstumme Dichter konnte weder die Urteilsverkündung noch den Todesschuss hören.

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Untaten des Sowjetregimes

Eines der letzten Opfer des russischen Sowjetregimes war der Dichter Vasyl Stus (1938-1985). Heute gilt er als einer der größten Lyriker seines Landes. Ganze 23 Jahre seines kurzen Lebens verbrachte Stus in verschiedenen Straflagern wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“. Bereits in der Gorbatschow-Ära starb er im sibirischen Lager Perm an Entkräftung, mit 47 Jahren. Ein großer Teil seiner Gedichte hat keinen Weg aus den Lagern gefunden.

Mehr Glück hatte der Dichter und Dramaturg Ivan Dniprovskyj, der 1934 gestorben ist, an Tuberkulose. Deshalb gelang es seiner Witwe, einen Koffer mit seinen Manuskripten, Briefen und anderen Dokumenten vor den sowjetischen Autoritäten in Sicherheit zu bringen. Gegen den ausdrücklichen Wunsch ihres Mannes, der das alles vernichtet sehen wollte, hob sie den Koffer auf. Ein Sohn aus zweiter Ehe hat ihn in den 1990er Jahren irgendwo entdeckt und dem Literaturmuseum von Charkiw übergeben.

Von allen diesen Untaten des russischen Sowjetregimes legt die Ausstellung ANTITEXT in Lwiw Zeugnis ab. Die Veranstalter hoffen, sie auch in Deutschland zeigen zu können.

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Michael Zeller Palingenese Stalinismus

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