Klimalyrik

Erhört die Wälder!

Der Klimawandel erfordert nicht nur technische Lösungen, er bedarf auch einer Gegenerzählung. Wie sie sich finden lässt, darauf gibt die Lyrik der Gegenwart Antworten.
Ruine am Meer
Foto: IMAGO/? Fine Art Images/Heritage Images (www.imago-images.de) | Bereits der Maler Arnold Böcklin (1827–1901) machte die Rückkehr der Natur und ihre Überwucherung über die Kultur zum Thema. Nur wirkte das bei ihm noch düster und dämonisch.

Die Natur schlägt schon seit einiger Zeit zurück. Was einst noch apokalyptischen Prophetien glich, ist Realität geworden: Hitzesommer, Megafluten, Verwüstungen. Nicht erst seit den jüngsten und wiederholten Fridays for Future-Protesten steht fest, was der 2015 verstorbene Soziologe Ulrich Beck in seiner kanonischen Studie „Die Metamorphose der Welt“ (2017) beschrieb

Die „Klimarisiken“ zeigen dem „organisierten Industriekapitalismus seine Fehler in Form einer objektivierten Bedrohung seiner eigenen Existenz“ auf. Der Faustische Fortschritt hat den Menschen augenscheinlich derart weit über alle Begrenzungen der Natur hinauswachsen lassen, dass er gänzlich die Verbindung zu ihr verloren hat. An Fakten und Zahlen zu dieser Entfremdung mangelt es bekanntlich nicht. Wir wissen, was – vom Ausbau erneuerbarer Energien bis zur dringlich nötigen Wende in der Landwirtschaft – theoretisch zu tun ist.

Die Selbstermächtigung der Biosphäre

Doch um den gewachsenen Spalt zwischen Zivilisation und Umwelt zu überwinden, bedarf es mehr als allein technischer Lösungen. Gebraucht werden vor allem Narrative, wie die neuere Lyrik eindrucksvoll darlegt. „Ich will zu dir Wald wir/ müssen eine neue Sprache finden wir/ sind so künstlich aufgeforstet wir/ können zusammen nicht kommen (…) unsere Nabelschnur/ schnitten wir ab“, schreibt Kerstin Becker in ihrem luziden Band „Das gesamte hungrige Dunkel“ (2022). Die Sehnsucht in diesem Ruf wiegt schwer, sie zeugt vom Bewusstsein, nicht mehr zu den eigenen Ursprüngen zurückzugelangen. Die Geschichte von Wald und Flur, Tiere und Pflanzen, sie ist uns unzugänglich geworden.

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Jenseits dieser traurigen Diagnose mühen sich viele Dichter derzeit um eine Annäherung an Flora und Fauna, die sich angesichts der politischen Bedeutsamkeit des Diskurses romantisierender oder verklärender Baum- und Wiesenseligkeit verweigert. Wenn etwa Daniela Danz in ihrem Band „Wildniß“ (2020) proklamiert: „die Landschaft tritt wieder in die Erzählung ein“, dann versteht sie darunter eine radikale Selbstermächtigung der Biosphäre. Darin erobert eine Landschaft ein Stadtgebiet zurück. Trotz dieser buchstäblichen Renaturierung erweist sich das Szenario nicht als frei von einem zeitgenössischen Kulturpessimismus. Denn unlängst errichten die Menschen anderswo neue Häuser. Daran schließt sich wiederum eine Suade der üblichen Katastrophenmeldungen aus den Nachrichten an.

Der Planet ist ein Netzwerk

Die „Bucht des Stillstandes“, womit die Autorin das starre Verharren der Gesellschaft im Modus des Weiter-so bezeichnet, scheint eben ein trügerischer Ort zu sein, was vor allem an Danz?ästhetischen Verfahren verdeutlicht. Mit dem Verzicht auf Kommata sowie dem Abbrechen von Sätzen zeichnet ihre Verse stets ein Störungsmoment aus. Das Stocken beim Lesen ist gewollt. Es markiert die Atempause für kritische Hinterfragung. So lautet auch die wichtigste Maxime jener Gedichtsammlung: „die Dissonanzen jawohl sie bessern uns“, fordern uns eine Abkehr vom Übel der Gewohnheit ab. Danz‘ so eruptive wie erhabenen Miniaturen schreiben sich daher von einer Finsternis her, die überhaupt erst zur Suche nach Erkenntnis motiviert.

Nur wie könnte sie aussehen? Die aktuelleren, poetischen Visionen zu einer klima- und umweltfreundlichen Friedensordnung, die jenseits von Ausbeutung und Repression bestehen soll, unterscheiden sich mitunter von denjenigen der Kulturwissenschaften und Soziologie. Letztere sind beispielsweise bestimmt durch die Theorien des französischen Denkers Bruno Latour. Ihm zufolge beruht das planetare Ganze auf einer Art Netzwerk, in dem mehr oder weniger allen Wesen ein Akteurstatus zukommt. Indem sie miteinander agieren und damit eine Funktion erfüllen, haben sie zugleich eine Berechtigung im Dasein. Tiere wie auch Menschen haben darin einen vor allem aus ihrer gegenseitigen Abhängigkeit resultierenden Wert.
Die dichterischen Positionen scheinen hingegen eine Beseelung vorzunehmen, die letztlich auf eine Empathievermittlung hin-ausläuft. Da wir gemeinhin nicht die Sprache von Bäumen, Schweinen oder Tauben beherrschen, eröffnen sie einen ganz neuen Kommunikationsraum. Sie leihen den Kräften und Kreaturen der Natur ihre Stimme.

Dem Machtanspruch des Menschen entzogen

Besonders Ulrike Draesner und Oswald Egger erzeugen auf faszinierende Weise einen Sound der Wildnis. Wie das Schreiben von ersteren in ihrem Band „Doggerland“ (2021) veranschaulicht, basiert es auf einer eigenen Grammatik und einem eigenen Rhythmus. Es regiert die reine Lautmalerei. Da „nageln ringelnatter kreuzotter“. Und das „das sichelförmige gewaff der keiler“ lässt uns geradezu erschaudern. Wir entwickeln Vorstellungen von den Tieren hinter diesen hyperverdichteten Beschreibungen, von ihren Bewegungen und ihrem Verhalten. Gleichzeitig will die Art der Formulierung eine gewisse Hermetik bewahren. Ebenso belässt Oswald Egger, der Dirigent der Vielstimmigkeit von Landschaften in der deutschen Lyrik, dem Treiben von Flora und Fauna sein Geheimnis.

Neben seiner brillanten Hommage an die Täler Südtirols „Val di Non“ (2017) besticht sein Band „Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt“ (2021) durch eine arkane Ausdruckskraft. Es ist das Porträt des titelgebenden Flusses. Kaum noch imaginierbare Schauspiele aus vom Wasser mitgenommenen Materialien bahnen sich darin Raum: „Die Stromfäden verschlingen im Prallhangschutt und bilden, auseinandergezurrt, schraubenförmig torquierte Spierel“. Im Legato folgen wir „Stromwälzfäden“ und „fein gelitzten Strähnen“, um sodann mit den Linien in das Stakkato von Kanten, „Steinklippen“ und „Kalkschiefer“ zu münden.

Von Wäldern, Tieren und Pflanzen nicht nur schöne Fotos erhalten

Jene mit Wortneukreationen und einem Überangebot an artifiziellen Bildern angereicherten Gedichte unterstehen dem Versuch, eine Form für das Selbst einer Biosphäre zu finden, die sich, sofern das überhaupt noch möglich ist, weitestgehend einem anthropozentristischen Machtanspruch entzieht. Nicht das humane Individuum soll der Natur seinen Stempel und seine Deutungshoheit aufdrücken, vielmehr sollen ihre Vertreter Subjekt werden. Erst diese Aufwertung unterstreicht die Dringlichkeit, sie in moralischer und politischer Hinsicht stärker zu achten. Denn vor allem weil der grünen Welt eine erstaunliche Andersartigkeit und eine spezifische Unergründlichkeit innewohnt, muss sie als schützenswertes Gut gelten.

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Stellt sich diese Einsicht zu spät ein und handeln wir weiter so als hätten wir zehn Erden übrig, dürfte die Konsequenz eintreten, die Sepp Mall in einem Gedicht aus seinem Band „Holz und Haut“ (2020) skizziert: Lange „redeten [wir] vom Waldverbiss/ vom/ sauren Regen“, ferner einem eine bedrohliche Gewissheit transportierenden Geruch. „Wenn wir auseinander- / gehen (später)/ rinnt dir das Brennen/ ins / Innere/ wie durch Harzkanäle mittn/ ins Hirn/ wo Baum für Baum kippt/ ins Erinnern/ in die Glut“. Von Auen und Wäldern, Tieren und Pflanzen sollten nicht nur schöne Fotos für Archive übrig bleiben. Ihnen jetzt Gehör zu schenken, ihnen den Platz für eine eigene Erzählung zuzubilligen, lautet das Plädoyer einer so wachsamen wie selbstbewusst alle Sprach- und Denkgrenzen überwindenden Lyrik.

– Kerstin Becker: Das gesamte hungrige Dunkel. Edition Azur. 72 Seiten, EUR 18,–
– Daniela Danz: Wildniß. Wallstein. 86 Seiten, EUR 18,–
– Ulrike Draesner: doggerland. Penguin. 184 Seiten, EUR 38,–
– Oswald Egger: Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt. Suhrkamp. 280 Seiten, EUR 28,–
– Sepp Mall: Holz und Haut. Haymon. 96 Seiten, EUR 16,–

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