Sie trauen sich etwas, die Kelmiser! Die Einwohner des 11 000 Seelen-Orts an der deutsch-belgischen Grenze bei Aachen, die seit 1936 alle sieben Jahre Passionsspiele auf die Beine bringen und, durch die Corona-Pandemie bedingt, jetzt ein Jahr später an den Start gingen als ursprünglich geplant, schaffen etwas, was etwa die „großen“ Oberammergauer Passionsspiele unter dem berühmten Regisseur Christian Stückl, der Jesus zu einem innerjüdischen Reformer uminterpretierte und seine Gottessohnschaft gezielt herunterdimmte, jüngst peinlichst vermieden hatten: Sie stellen in Zeiten von Krisen und Konflikten, Spaltung und Krieg, Leid und Tod die christliche Kernbotschaft unter dem Leitthema „Bedingungslose Liebe“ bewusst in den Mittelpunkt des Geschehens rund um das Leiden und Sterben Jesu Christi, das in der Patronage, dem Versammlungshaus der Pfarrei, in diesem Jahr zum insgesamt 13. Mal in Szene gesetzt wird. Großartig!
Ideal der bedingungslosen Liebe
Insgesamt 120 Bewohner des Dorfes, das zu Belgiens deutschsprachiger Gemeinschaft gehört, sind an dem Passionsspiel beteiligt – von der Bühnentechnik über die Kostümschneiderei (die ansprechende, für die Antike charakteristische und zugleich moderne Kostüme entworfen hat) und den Verpflegungstrupp bis hin zu den Statisten und den Darstellern der größeren Rollen. Die Bühne ist klein und eng, was die Auf- und Abtritte der Schauspieler und der größeren Gruppen verständlicherweise einschränkt.
Dafür wird tatsächlich in der Fastenzeit und in der Karwoche gespielt, und Kelmis hat eine Besonderheit aufzuweisen, die andere Passionsspiel-Orte nicht haben: einen Erzähler (Norbert Schröder), der in das Geschehen einführt, die verschiedenen Szenen theologisch kommentiert und die Bezüge zu heute herstellt. Dieser überzeugend auftretende Erzähler macht von Anfang an klar, worum es den drei Spielleitern Raymond Schroers, Hubert Hilligsmann und Marcel Henn geht: Das Ideal der bedingungslosen Liebe, das darin besteht, sich um das Glück und Wohlergehen der anderen zu bemühen, ohne Gegenleistungen zu erwarten oder Bedingungen zu stellen, und selten erreicht wird. Jesus aber hat den Menschen dieses schwierige, herausfordernde, schwer umzusetzende Geschenk gemacht und ist den Weg der bedingungslosen Liebe gegangen. „Er zeigt uns den Weg, ihm nachzufolgen, er gibt sich selbst ganz hin“, verdeutlicht Erzähler Schröder die Botschaft der Inszenierung. „Nehmen wir dieses Geschenk an?“
Eine besondere Beziehung zwischen Jesus und Judas
Die Kelmiser Inszenierung setzt zur getragenen Musik aus Richard Wagners Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ mit der Bergpredigt ein, die in dieser Version direkt mit dem (hier nicht besonders spektakulären) Einzug in Jerusalem verknüpft ist. Dem eigentlichen Passions-Geschehen gehen die Szene mit der Ehebrecherin (während der die Männer die Steine, mit der sie die Frau töten wollen, wirkungsvoll-krachend zu Boden fallen lassen) und die wunderbar stimmungsvoll inszenierte Begegnung Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen voraus. Die Spielleiter haben das Textbuch für die diesjährige Aufführung grundlegend überarbeitet, einige Szenen – wie die am Jakobsbrunnen – ergänzt und dafür andere gestrichen. Völlig neu eingeführt wird Lea (Carmen Keutgen), die Mutter des Judas, die schon früh Maria (Walburga Salette), der Mutter Jesu, begegnet. „Wir werden diesen Weg gemeinsam gehen und beide diese schwere Prüfung erdulden müssen“, beschließen die Mutter des verratenen Erlösers und die Mutter des Verräters.
Diese Szene deutet schon an, dass Judas wie in vielen heutigen Passion-Inszenierungen eine herausragende Rolle spielt. In der Interpretation der Kelmiser ist er ein intelligenter, berechnender Mann, der ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens erwartet, dann aber von Zweifeln erfasst wird und sich dadurch von seinem Meister entfernt. Ganz auf der Linie von Stücken die „Die Verteidigungsrede des Judas“ von Walter Jens und „Judas“ von Lot Vekemans wird der größte Verräter aller Zeiten entlastet und Verständnis für seine Gefühle und Motive geweckt: Die Vertreter des Hohen Rates verführen ihn dazu, seinen Meister ohne Aufsehen zu verraten, Judas selbst weiß in dieser (für ihn zu günstigen?) Version der Passionsgeschichte nicht, dass der Tod Jesu längst beschlossene Sache ist. Als er durchschaut, dass er ein verratener Verräter ist, geht er zurück zum Hohen Rat, wirft ihm das „Honorar“ der 30 Silberlinge vor die Füße und schreit sie an: „Ihr habt mich zum Verräter gemacht, ihr seid die Mörder.“
Die Kelmiser Spielleiter legen nahe, dass zwischen Jesus und Judas eine besondere Beziehung besteht und Judas derjenige ist, der als in Schuld Verstrickter Gottes Liebe und Vergebung am meisten braucht. Sobald er erkennt, dass seine „vermaledeite Geldgier“ ihn zum Verrat getrieben hat, empfindet er ehrliche Reue und Verzweiflung (die der sympathische, junge Darsteller Marvin Henn glaubhafter verkörpert als das Abgründig-Boshafte seiner Rolle). Doch für eine Umkehr ist es zu spät, und Judas erhängt sich.
Überwältigende Schluss-Szene
Ähnlich wie bei anderen Passionsspielen ist auch in Kelmis die Rolle der Frauen insgesamt deutlich aufgewertet. Zwei von ihnen gehören sogar zum engeren Jüngerkreis, die Frauen um Maria, die Mutter Jesu, sind im Abendmahlssaal anwesend und begleiten Jesu Leidensweg bis unter das Kreuz. Dreh- und Angelpunkt des Spiels sind die Debatten und Auseinandersetzungen im Hohen Rat, bei denen die Hohenpriester Annas (Gerwin Poth) und Kaiphas (André Bulkaert) bei Nikodemus (Martin Mertens) und Josef von Arimathäa (Raymond Schroers) auf Widerstand stoßen, sich aber nicht von ihrem Kurs abbringen lassen. Anders als in vielen anderen Inszenierungen werden in Kelmis der Hohe Rat und das jüdische Volk nicht entlastet, sondern kommt der römische Statthalter Pontius Pilatus (eher schelmisch und spitzbübisch als gefährlich: Denis Barth), der erst nach vielen Zweifeln und etlichen Fragerunden das Todesurteil fällt, vergleichsweise gut weg.
André Evertz, ein Jesus mit ansehnlichem Bart, bringt in die Gestaltung der Hauptpartie die Erfahrung der beiden vorigen Passionsspiele ein und wirkt in der Hauptrolle durchaus glaubwürdig. Seine vielleicht stärkste Szene hat er im Garten Gethsemane, wo er die Angst und Verzweiflung Jesu mit einer Intensität wie selten für das Publikum nachvollziehbar macht. Dass Jesus bezeugt, dass Gottes Liebe größer ist als alles andere, beglaubigt André Evertz durch seine überzeugende Rollenverkörperung. Die Fußwaschung geschieht im Zeichen der Liebe; daraus ergibt sich für die Verantwortlichen des Passionsspiels der Sinn des Wirkens Jesu und vor allem der Passion. Auffällig ist, dass diese Passion selbst nicht so brutal-drastisch ausfällt wie andernorts. Die Geißelung Jesu wird überhaupt nicht gezeigt, der Kreuzweg fällt sehr kurz aus, und am Ende steht das Kreuz Jesu (ohne Schächer!) plötzlich auf der Bühne, ohne dass der Hergang der Kreuzigung bis ins Detail vorgeführt worden wäre.
Sobald der Leichnam Jesu vom Kreuz abgenommen ist und seine Mutter Maria ihn trauernd in den Armen hält, wird auf der anderen Seite der Bühne der tote Judas auf einer Bahre hereingetragen, um den dessen Mutter Lea genauso weint wie Maria um ihren Sohn. Ausgesprochen gelungen, ja überwältigend ist die Schluss-Szene: Der auferstandene Christus tritt, ganz in Weiß gekleidet, an die Osterkerze und zündet sie an. Inmitten der komplett auf der Bühne versammelten Schauspieler-Truppe stehen er und Judas, der ihn so schmählich verraten hat, Seite an Seite – Symbol der bedingungslosen Liebe. Die Ergriffenheit des Publikums ist mit Händen zu spüren. Stehende Ovationen.
In der Patronage von Kelmis, Patronagestraße 29, finden noch an den kommenden Samstagen 11., 18., 25. März und 1. April (jeweils 19 Uhr) sowie an den Sonntagen 12., 19., 26. März und 2. April (jeweils 15 Uhr) und am Karfreitag, 7. April (20 Uhr), Vorstellungen des Passionsspiels statt.
Informationen und Kartenverkauf beim Sekretariat unter Telefon 0032/4 71 61 47 59 oder 0032/ 4 69 46 99 80, per E-Mail unter info@passiochristi.be oder online über www.passiochristi.be.
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