Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Woody Allen wird 90

Er brachte das Denken zum Lachen – und das Lachen zum Denken

Woody Allen wird 90. Zwischen Slapstick, Philosophie und Jazz hat er die Komödie zur moralischen Denkfigur erhoben – und dabei einen Ton geschaffen, der im heutigen Kino fast verloren gegangen ist.
Woody Allen streifte mit seinem bewegten Privatleben immer wieder den Skandal, seinem Rang als Regisseur konnte das bis heute nichts anhaben.
Foto: IMAGO/Mario Cartelli (www.imago-images.de) | Woody Allen streifte mit seinem bewegten Privatleben immer wieder den Skandal, seinem Rang als Regisseur konnte das bis heute nichts anhaben.

„Das Leben zerfällt in zwei Teile: das Schreckliche und das Unglückliche.“ Den vielzitierten Satz spricht Alvy Singer, Woody Allens Alter Ego in „Annie Hall“ (deutscher Titel: „Der Stadtneurotiker“, 1977), dem Film, mit dem Allen seine unverwechselbare Handschrift fand. Wieviel Autobiografisches darin steckt, sei dahingestellt – die skeptische Lebenssicht zieht sich durch sein Werk. Geboren am 1. Dezember 1935 in Brooklyn, New York, als Allan Stewart Koenigsberg, begann Allen als Stand-up-Komiker und Fernsehautor; unerwartet avancierte er zu einem der großen Chronisten des 20. Jahrhunderts. Seine frühen Werke, meist Slapstick und Persiflage, machten ihn zu einem Liebling intellektueller Zuschauer. Die Marx Brothers standen Pate – Groucho Marx setzte Allen später ein augenzwinkerndes Denkmal in „Alle sagen: I love you“ (1996).

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Mit „Annie Hall“ traf er, wie eine Kritik bemerkte, „den Nerv der Zeit“, gewann vier Oscars und begann jene Reihe von 16 Drehbuch-Nominierungen, die bis heute unübertroffen bleibt. Das Grundmotiv steht fest: Allens Aufeinandertreffen mit einer Unterhaltungswelt, die Wahrheit meist dem Beifall opfert.

Der Unterschied zwischen Kunst und Leben

„The Purple Rose of Cairo“ (1985) hebt das Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit auf eine neue Ebene, wenn eine Filmfigur buchstäblich von der Leinwand steigt. Die Geschichte der Kellnerin Cecilia, die in die Traumwelt des Kinos flüchtet, wird zur Parabel über die Macht der Illusion – und über die Frage, ob der Mensch überhaupt fähig ist, Kunst und Leben zu unterscheiden. Oscar Wilde hatte behauptet, das Leben ahme die Kunst weit mehr nach als die Kunst das Leben; Allen aktualisierte trocken fürs TV-Zeitalter: „Das Leben imitiert nicht die Kunst, es imitiert schlechtes Fernsehen.“

Kaum ein Regisseur hat das komische Fach so vielschichtig behandelt: Krimikomödien von „Manhattan Murder Mystery“ (1993) über „Bullets over Broadway“ (1994) bis „Schmalspurganoven“ (2000) sind Musterstücke eleganter Ironie. In „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ oder „Irrational Man“ wird das Delikt zur moralischen Versuchsanordnung. In „Crimes and Misdemeanors“ gibt ein Augenarzt einen Mord in Auftrag und bleibt ungestraft – Allens Theodizee über Schuld und Zufall. In einer Parallelhandlung arbeitet ein Dokumentarfilmer an einem Porträt seines oberflächlichen, als Fernsehproduzent aber höchst erfolgreichen Schwagers – eine Satire auf Kunst und Kommerz.

Der Zufall schafft Ordnung

Sein bislang letzter Film „Ein Glücksfall“ (2023) bietet – wie schon „Match Point“ (2005) – zwar eine ähnlich moralisch-gesellschaftliche Reflexion, ohne jedoch die Tiefgründigkeit von „Crimes and Misdemeanors“ zu erreichen. Im letzten Film von 1989 wird der Augenarzt von Gewissensbissen heimgesucht – aus seiner religiösen Erziehung, die er lange verdrängt hatte. „Match Point“ und „Ein Glücksfall“ lassen diese Gedanken vermissen. Heutige Krimikomödien wie „Only Murders in the Building“, „The Residence“ oder „Knives Out“ sind zwar brillant konstruiert, bleiben aber moralisch folgenlos. Sie setzen auf Rätsel und satirische Gesellschaftsbilder. Der Erfolg von „Only Murders in the Building“ belegt indes, dass Dialogwitz und Figurenzeichnung – zentrale Qualitäten bei Woody Allen – nach wie vor gefragt sind.

Allens Liebeskomödien sind von Melancholie getragen. In „Manhattan“ (1979), „Hannah und ihre Schwestern“ (1986) oder „Midnight in Paris“ (2011) ist Liebe keine Lösung, sondern eine Erkenntnisquelle. „Midnight in Paris“ zeigt den Schriftsteller Gil, der in die Zwanziger flieht und darin entdeckt, dass jede Generation die eigene Gegenwart für ungenügend hält. Nostalgie ersetzt Hoffnung. Allens Liebesfilme wirken altmodisch: Ihre Stärke ist das Gespräch, nicht das Happy End. Immer wieder verwandelt Allen das Tragische in ironische Gelassenheit. „Match Point“ (2005) und „Cassandra’s Dream“ (2007) erzählen vom Zufall als metaphysischer Macht. Der Tennisball auf der Netzkante illustriert, dass Erfolg oft nur die Kehrseite des Unrechts ist. Trotzdem bleibt der Humor. Witz ist bei ihm kein Zynismus, sondern eine Weigerung, Sinnlosigkeit hinzunehmen.

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Allens Werk ist von der Überzeugung getragen, dass Komik die angemessene Antwort auf das Absurde ist. Seine Figuren flüchten in Philosophie, Religion oder Psychoanalyse und stoßen überall auf dieselbe Wand. „Woher soll ich wissen, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, wenn ich nicht einmal weiß, wie dieser Korkenzieher funktioniert“, sagt Mickeys Vater in „Hannah und ihre Schwestern“. Und Allen selbst: „Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod, aber ich nehme vorsichtshalber Unterwäsche mit.“ Selbst in seinen leichteren Filmen – „To Rome with Love“ (2012) oder „A Rainy Day in New York“ (2019) – bleibt dieser Grundton spürbar. Sprachwitz („Ich kann mich bei Turbulenzen nicht entkrampfen. Ich bin Atheist.“) und Slapstick verbinden sich mit zärtlichen Stadtporträts. Selbst dort, wo Pessimismus aufscheint, mildert ihn die Naivität seiner Figuren oder die Musik des Jazz. Allens späte Filme sind nicht resignativ, sondern heiter abgeklärt.

Das heutige Kino trennt hingegen Humor von Reflexion. Selbst kluge Produktionen wie „Don’t Look Up“ (Adam McKay, 2021) oder „Barbie“ (Greta Gerwig, 2023) verkünden Botschaften, wo Allen Fragen stellt. Auch in Europa ist die leise Komödie selten geworden, es fehlt an Herzlichkeit. Allens Humor ist zugeneigt: Er lacht über die Schwäche, nicht über die Schwachen.

Woody Allen bleibt unerreicht

Vielen war Allen Inspiration und Vorbild. Sophie Lellouches „Paris Manhattan“ (2012) lässt ihre Heldin imaginäre Gespräche mit einem Poster des Meisters führen; Agnès Jaouis „Schau mich an!“ (2004) zitiert in einer Einstellung die berühmte Totale aus „Annie Hall“. Beide Filme verbeugen sich, aber keiner erreicht Allens Balance aus Witz, Philosophie und Melancholie.

Das französische Kino geht ohnehin einen anderen Weg. Filme wie „Willkommen bei den Sch’tis“ (2008) oder „Ziemlich beste Freunde“ (2011) sprechen ebenfalls vom menschlichen Ungenügen – aber sie verwandeln es nur in Empathie, ohne die feine Ironie. In Italien gibt es einen Geistesverwandten: Nanni Moretti. In „Caro diario“ (1993), „Aprile“ (1998) oder „La stanza del figlio“ (2001) verbindet er Selbstironie mit moralischer Empörung. Wie Allen spielt auch Moretti den Intellektuellen, der zwischen Verzweiflung und Hoffnung schwankt. Doch wo Allen ins Private flieht, bleibt Moretti politisch. Beide Regisseure zeigen den modernen Menschen als Suchenden – lächerlich, aber nicht verloren.

„Das Leben ist voller Elend, Einsamkeit und Schmerz – und viel zu schnell vorbei“, sinniert Alvy Singer in „Annie Hall“. Allen hat das Denken mit dem Humor versöhnt. Seine Filme zeigen, dass Lachen nicht das Gegenteil von Ernst ist, sondern dessen menschlichste Form.

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