Das italienische Lokal „Augusto“ in Würzburg, Ende der 1980er Jahre: Ein 30-jähriger Philosophie-Doktorand aus dem Rheinland saß dem damaligen Chefredakteur der „(Deutschen) Tagespost“ Harald Vocke (1927-2007) gegenüber und sie philosophierten – über die europäischen und arabischen Sprachen, über Geschichte und Literatur. Schlemmerstunden des Geistes.
Am Ende bot der weltläufige Vocke, der nach Diensten als Diplomat und FAZ-Journalist im Nahen Osten konvertiert war, dem jungen Mann namens Alexander Riebel eine Stelle in der Redaktion der katholischen Zeitung an, die der aus einer französischen Hugenottenfamilie stammende Riebel ab Dezember 1988 mit Pflichtbewusstsein und Geistesschärfe neben seiner Arbeit an der Doktorarbeit „Zur Prinzipienlehre bei Heinrich Rickert: eine Untersuchung zur Stufung der Denk- und Erkenntnisprinzipien“ ausübte – nach erfolgreicher Promotion im Jahr 1993 dann mit vollem redaktionellem Engagement. 35 Jahre lang – was sich Riebel, der zuvor in Bonn, Köln und Wien Philosophie und Germanistik studiert hatte, so sicherlich nicht vorstellen konnte. Vielleicht auch nicht vorstellen wollte.
Nicht dogmatisch, sondern mit Argumenten
Doch inmitten der damaligen, heute geradezu altertümlich anmutenden Zeitungs-Produktionsmethoden und der katholischen Redaktionswelt fand der stets höflich und zurückhaltend auftretende, hochragende Mann eine bodenständige Verankerung, die ihm half, seinen schier unbegrenzten Wissensdurst in Berührung mit aktuellen Themen zur Entfaltung zu bringen: die deutsche Wiedervereinigung, die fortschreitende europäische Integration, Lebensschutz- und Kriegs-Debatten, die islamistischen Anschläge vom 11. September 2001, Feuilleton-Diskussionen, die Migrationskrise 2015, neue Gender-Sprachregelungen, Covid-19-Pandemie – Alexander Riebel ordnete als „Tagespost“-Redakteur, der die Ressorts Kultur, Medien, Literatur und Bildung betreute, die Ereignisse und Konflikte stets nüchtern und verlässlich ein. Er beschrieb und kommentierte mit unabhängigem Blick.
Nicht dogmatisch, sondern mit Argumenten, auf Grundlage der Vernunft also, was dazu beitrug, dass die Zeitung trotz mancher emotional geführter kirchenpolitischer Debatten auf den vorderen Seiten in den von Riebel betreuten Ressorts stets ein Hort der ruhigen, sachlichen Berichterstattung blieb. Ganz so, wie es sich der weltoffene Vocke auch gewünscht hatte – wie wohl auch seine Nachfolger, die Alexander Riebel stets loyal und mit vollem Arbeitseinsatz unterstützte. Oft sogar unter Verzicht auf freie Tage und Urlaub, so sehr war ihm die Zeitung mit ihrem Sitz am Dominikanerplatz in Würzburg ans Herz gewachsen. Es stimmt: Alexander Riebel hielt in all den Jahrzehnten bei der „Tagespost“ die Stellung des Geistes. Er war der wirklich Verlässliche, die unsichtbare Seele der Zeitung, während Bischöfe und Skandale kamen und wechselten, und so manche fromme kirchenpolitische Hoffnung an der Realität zerschellte. Doch – bei allem Respekt vor den katholischen Ritualen und Kulturleitungen – diese Welt der kirchlichen Strukturen und Reformdebatten war nie wirklich Alexander Riebels Welt. Sie betrachten und aus ihr lernen, das wollte er jedoch schon.
Etwas von dieser Feinfühligkeit spürt man auch in den Essays und Betrachtungen, die er als Redakteur für die „Tagespost“ schrieb, wie etwa zur Literatur- und Philosophiegeschichte, aber auch in den unzähligen Buch-Rezensionen und Ausstellungsbesprechungen, die bei ihm niemals flüchtig verfasst wurden, sondern mit außerordentlicher Gründlichkeit. Las Alexander Riebel doch zu jeder Ausstellung, sei es zum frühen Dürer in Nürnberg oder zu Botticelli in Frankfurt, stets auch den dazugehörigen Katalog. Ziemlich dicke Wälzer mithin.
In seinen Betrachtungen cool und gelassen
Verheiratet mit der japanischen Dichterin und promovierten Philosophin Toyomi Iwawaki war es für Alexander Riebel dabei stets eine Selbstverständlichkeit, dass er die Zeitung auch mit neuesten Erkenntnissen zum Buddhismus und zu allem, was in Asien passierte, bereicherte. Es gelang ihm, mit Offenheit und Verständnis über den europäischen und konfessionellen Tellerrand zu schauen. Aber auch, wenn nötig, die Geister zu scheiden, die kulturellen und religiösen Differenzieren offen zu legen. Seine Sympathien für die ruhige, harmonische Wesensart der Asiaten konnte und wollte er nicht verhehlen.
Viele Entwicklungen auf den Gebieten Technologie und Leben hat Alexander Riebel in „Tagespost“-Serien, wie „Philosophen, die die Welt verändert haben“ zeitnah aufgegriffen und sich dem Fortschritt dabei nie versperrt. Als manche katholischen Autoren in geradezu hysterischer Manier vor den Gefahren der Mobiltelefone oder anderer, heute längst akzeptierter Innovationen wie der Computerwelt warnten, blieb Riebel in seinen Betrachtungen cool und gelassen. Sachlich wägte er die ethischen Vor- und Nachtteile ab. Wissend, wie Friedrich Dürrenmatt, dass das, was gedacht wurde, nicht mehr zurückgenommen werden kann, und dass Versuche, das Leben und den Geist einzuhegen, schnell in sektiererischer Verengung enden können. In Parallelwelten.
Das war nie Alexander Riebels Aufenthaltsort. Was vielleicht auch, jenseits seiner toleranten Persönlichkeit, daran liegt, dass Riebel das Philosophieren, die Suche nach neuer Erkenntnis jenseits des journalistischen Brotberufs niemals aufgegeben hat. Mit Anfang 40 machte sich der begeisterte Fahrradfahrer und Vater einer Tochter, die inzwischen in Australien lebt, auf, nach Kant und Fichte das Denken Georg Wilhelm Friedrich Hegels zu erforschen. Nicht unbedingt zur Freude seines Doktorvaters, mit dem er bis an Werner Flachs Lebensende im Februar dieses Jahres in freundschaftlicher Philosophen-Verbindung blieb.
Bescheiden und Vorbildlich
Inzwischen hat sich Riebels Interesse an Hegel in einigen fundierten philosophischen Aufsätzen und Abhandlungen niedergeschlagen, die in renommierten philosophischen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden.
Ein Weg, den Alexander Riebel mit dem selbstgewählten Ausscheiden aus der Redaktion zum Monatsende sicherlich zukünftig noch intensiver fortsetzen wird – und es ist ihm zu wünschen, dass er all die in den vergangenen Jahrzehnten gesammelten Erfahrungen an der Trennlinie von Glaube und Vernunft, Katholizismus und Philosophie in ein Werk formen kann, das seinen hohen denkerischen Ansprüchen gerecht wird. Die stilistische Begabung hat er allemal.
Für die „Tagespost“ war Alexander Riebel in den zurückliegenden Jahrzehnten eine wertvolle Hilfe, der durch seine Bescheidenheit und seinen vorbildlichen Dienst vermutlich einen großen Segen auf die Zeitung und ihre Leser herabgerufen hat. Wünschen wir ihm diesen Segen für seine persönliche Zukunft als Denker.
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