Krieg in der Ukraine

Die Propaganda abwehren

Russland attackiert die Ukraine nicht nur mit Waffen, sondern auch mit absurden Geschichts-Narrativen und Desinformation. Dagegen hilft besseres Wissen und auch Humor.
Propaganda und "fake news"
Foto: (529866173) | Russland in seinen verschiedenen imperialistischen Gestalten hat eine lange, ungebrochene Tradition der Diffamierung und Verachtung des Ukrainischen.

Der großangelegte russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar vor einem Jahr hat mit dem erklärten Ziel gestartet, die Ukraine zu „entnazifizieren“. Während die Ukrainer diese Begründung als ein Hirngespinst der russischen Propagandisten gekonnt beiseite schoben, machten sich ungeübte westliche Beobachter nach dem ersten Schock auf die Suche nach dem Wahrheitsgehalt der Formulierung.

Holodomor forderte millionen Opfer

Russland in seinen verschiedenen imperialistischen Gestalten als Zarenreich, als Sowjetunion, als „moderne“ Russische Föderation hat eine lange, ungebrochene Tradition der Diffamierung und Verachtung des Ukrainischen. Die ukrainische Bevölkerung wurde im russischen Zarenreich des 18. und 19. Jahrhunderts beleidigend als „Chochol“ oder „Kleinrussen“ bezeichnet, die ukrainische Sprache als „Bauernsprache“ verschmäht. Die neuen Zeiten nach der Gründung der Sowjetunion 1922 brachten neue Klischees hervor. Der bolschewistische Theoretiker Wladimir Lenin hat anfangs noch den großrussischen Chauvinismus und die „Unzahl von Gewalttaten und Beleidigungen“ den kleinen Nationen gegenüber kritisiert: „Ich brauche mich nur daran zu erinnern, wie man bei uns die Nichtrussen behandelt, wie man einen Polen nicht anders denn Polacken nennt, jeden Tataren als Fürsten verspottet, den Ukrainer nur beim Spitznamen Chochol ruft, alle Georgier und die Angehörigen anderer kaukasischer Stämme als Kapkaser verhöhnt.“

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Doch schon bald nach Lenins Entmachtung und der Übernahme des Ruders durch Josef Stalin in den 1920er Jahren kreierten die kommunistischen Ideologen einen neuen Begriff: „ukrainischer bürgerlicher Nationalismus“. In der Ära des Stalin-Terrors, der Massensäuberungen der Gesellschaft von „schädlichen Elementen“ und der Russifizierung wurden mit diesem Etikett in der Ukrainischen Sowjetrepublik nicht nur die Gegner der Angliederung der zentral- und ostukrainischen Gebiete an die UdSSR versehen, sondern pauschal alle, die nicht ins Konzept eines einheitlichen gehorsamen russisch-sowjetischen Menschen passten. Der Kampf gegen „ukrainische bürgerliche Nationalisten“, „Konterrevolutionäre“ und „Volksfeinde“ diente in den 1930er Jahren als Begründung für die Ausrottung der ukrainischen Kunst- und Theaterschaffenden die sogenannte Hingerichtete Renaissance , für Schauprozesse gegen ukrainische Wissenschaftler, sowie den Holodomor, die künstlich herbeigeführte Hungersnot in der Ukraine, der „Kornkammer Europas“, mit Millionen Opfern.

Ungewiss, inwiefern diese tragische Konnotation die Namenswahl der in der Westukraine wirkenden Organisation ukrainischer Nationalisten, OUN, mitbeeinflusste. In einem ihrer Anführer, Stepan Bandera, sah die sowjetische Propaganda jedenfalls die perfekte Personifikation des „ukrainischen bürgerlichen Nationalisten“. Der Sohn eines griechisch-katholischen Priesters kämpfte lebenslang für seine Vision eines unabhängigen ukrainischen Staates gegen fremde Herrschaft: Zunächst gegen die polnische Verwaltung in Galizien und Wolhynien; nach der Okkupation dieser Gebiete durch die Rote Armee 1939 gegen die Sowjets, mit deutscher Unterstützung; anschließend gegen die Nazideutschen, als diese 1941 in die Ukraine einmarschierten und der Idee der ukrainischen Unabhängigkeit eine Absage erteilten. Banderas Vater wurde von den Sowjets hingerichtet. Seine zwei Brüder kamen im KZ Auschwitz ums Leben. Bandera selber wurde im KZ Sachsenhausen inhaftiert, kam gegen Ende des Zweiten Weltkriegs frei und wurde 1959 von einem KGB-Agenten umgebracht.

Tradition der Brandmarkung

Stepan Bandera war nicht das einzige Gesicht der Unabhängigkeitsvision. Doch hat die Staatspropaganda seinen klingenden Namen, „Bandit Bandera“, zum Synonym für „Faschisten“, „Nazikollaborateur“, und damit zum „Volksfeind Nummer Eins“ gemacht. Den Schimpfausdruck „Banderiwzi“ (Anhänger von Bandera), gleichgesetzt mit dem „ukrainischen Nationalisten“ und „Nazis“, verwendeten die sowjetischen Medien, Politiker und Buchautoren, um die Ukrainer im In- und Ausland pauschal zu verunglimpfen. Das Klischee überdauerte den Zerfall der Sowjetunion.

Im postsowjetischen Russland wurde diese Tradition der Brandmarkung fortgesetzt und mit weiteren, aktuellen Feindbildern ergänzt. 2015 berichtete die traditionsreiche russische Zeitung „Komsomolskaja Prawda“ über eine Aktion lokaler Magie-Gläubiger mit dem Ziel, ihre Stadt Krasnodar vor „Dämonen der Gegenwart in ihren mehrfachen Gestalten als Schwule, Banderiwzi, Terroristen oder Türken“ zu beschützen. In der veröffentlichten Erklärung des berüchtigten kremltreuen Machthabers von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, Anfang März 2022 hieß es, die Wirkung von OUN und Bandera in den 1940er Jahren, der ukrainische Nationalismus, Russophobie und Loyalität zum Faschismus, angefeuert durch den Westen, seien schuld am „Konflikt“, wie Russland nach wie vor seinen Krieg gegen die Ukraine nennt. Ausgehend von diesem weit verbreiteten Gedankengut war es für viele Russen nur logisch, die Ukraine durch einen brutalen Vernichtungskrieg „entnazifizieren“ zu wollen.

Das lange geförderte russische Narrativ über die Empfänglichkeit der Ukrainer für die nationalsozialistische Ideologie zeigte auch im Ausland Wirkung. Beginnend mit den 2000er Jahren, nach Putins Machtergreifung in Kreml, porträtierten mehrere westliche Medien die Ukraine zunehmend als ein vom Nationalismus, Neonazismus und Judenhass durchseuchtes Land. Einen Höhepunkt erreichte dieser Irrtum während der Euromaidan-Proteste 2013/14 gegen den korrupten, russlandfreundlichen Präsidenten Janukowitsch und für die Annäherung an die EU, die als ein nationalistisch-neonazistischer, antisemitischer Putsch abgetan wurden. Diese Anschuldigungen veranlassten jüdische Organisationen der Ukraine, eine explizite Unterstützung der Maidan-Proteste zu erklären und Behauptungen über antisemitische Übergriffe als Lüge zu entkräften.

Gezielte Diffamierung führt zur Entmenschlichung

Es spielte in die Hände der modernen russischen Desinformation, dass der Begriff „Nationalismus“ in der Ukraine eine vom westlichen Verständnis divergierende Kontextualisierung aufweist. Durch vergangene ungerechtfertigte Anschuldigungen und Repressalien gegen angebliche „ukrainische Nationalisten“ Forscher, Bauern, Schriftsteller, Menschenrechtsaktivisten hat der Nationalismus im Ukrainischen rein sprachlich nun eine neutrale bis positive Färbung. Spätestens seit dem Euromaidan hat sich der inklusive politische Nationalismus herauskristallisiert: das Selbstverständnis der Ukrainer als eine multiethnische Nation auf Basis gemeinsamer Werte wie Selbstbestimmung, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, kultureller Prägung und Religion.

Im innenpolitischen Diskurs Russlands ebnete die gezielte Diffamierung der Ukraine den Weg zur Entmenschlichung der Ukrainer und senkte die Hemmschwelle der russischen Armeeangehörigen für Gräueltaten gegen die ukrainische Zivilbevölkerung. In einer online-Liste der populärsten ukrainophoben russischen Bücher finden sich Titel wie „Der Übermensch spricht Russisch. Der große Kampf. Russland gegen Golem“, 2006, „Kriegsschauplatz Ukraine: der gebrochene Dreizack“, 2009, „Blutige Verbrechen der Bandera s Junta“, 2015, „Leutnant aus der Zukunft: GRU-Spezialeinheiten gegen Banderiwzi“, 2014. Diese Werke sind voll propagandistisch-verschwörungstheoretischer Inhalte, plus Fantasy und Science-Fiction. Die russische Gesellschaft hat sich seit Jahren nicht nur militärisch, sondern auch emotional auf den Krieg mit der Ukraine vorbereitet, durch die Schaffung von Feindbildern und die Normalisierung der Gewaltphantasien gegen Ukrainer.

Der große Krieg ging mit einer Eskalation der russischen Propaganda-Rhetorik gegen die Ukraine einher, mit einem besonderen Fokus auf vermeintliche Trigger-Themen für russische und ausländische Empfänger. So adressierte der russische Verteidigungsminister im Oktober 2022 die europäische Angst vor Atomwaffen mit seiner Anschuldigung, die Ukraine arbeite an einer „schmutzigen Bombe“ mit radioaktiven Stoffen. Die Ukraine betreibe geheime Biolabors und entwickle Biowaffen, so der andere Vorwurf. Die Ukraine sei eine „totalitäre Hypersekte“ und müsse „desatanisiert“ werden, behauptete der russische Sicherheitsrat.

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Kein Schrecken vor Großreichphantasien Russlands

Die Ukrainer durchblickten die Absurdität der russischen Behauptungen und bekämpfen sie mit deren Dekonstruktion, vor allem durch Humor: vom ersten Tag des Krieges an werden russische Kriegsbemühungen nicht nur auf dem Schlachtfeld abgewehrt, sondern im Alltag furchtlos verhöhnt und im Internet ins Lächerliche gezogen. Dazu gehören ukrainische Omas, die russische Drohnen mit Tomatendosen beschießen, Traktoren, die russische Panzer abschleppen, genauso wie Verwendung der Trotzwörter die ironische Selbstbezeichnung als „Banderiwzi“, „Kampfmücke“ oder „schmutzige Bombe“. Ohne Angst vor dem Imperium und ohne Glauben an seine bedrohliche Großartigkeit verliert dieses seine lähmende Macht. Die reifer gewordene ukrainische Gesellschaft hat zu ihrem Subjektstatus gefunden, schreckt nicht mehr zurück vor Großreichphantasien Russlands und verteidigt ihre Deutungshoheit über die eigene Geschichte und Gegenwart, sowie das Recht auf ihre selbstbestimmte Zukunft.
Die Autorin ist gebürtige Ukrainerin und lebt in Wien. Nach einem Jura-Studium ist sie erfolgreich als Unternehmerin tätig.

Kurz gefasst: Russland in seinen verschiedenen imperialistischen Gestalten hat eine lange, ungebrochene Tradition der Diffamierung und Verachtung des Ukrainischen. Schon bald nach Lenins Entmachtung und der Übernahme des Ruders durch Josef Stalin in den 1920er Jahren kreierten die kommunistischen Ideologen einen neuen Begriff: „ukrainischer bürgerlicher Nationalismus“. Dieses Narratives bedient sich auch Wladimir Putin neben anderer absurder Beschuldigungen. Die Ukraine wehrt sich gegen diese Desinformation.

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