Missionarische Umgestaltung

Die Franziskus-Option

Das Programm des Papstes aus Argentinien beinhaltet neben dem Schwerpunkt Armut drei andere zentrale Themenfelder.
Papst Franziskus
Foto: IMAGO/Vatican Mediai/cpp / ipa-agency. (www.imago-images.de) | Echte Mission ist kein Aktivismus, sondern muss getragen sein vom Gebet. Keinen Satz sagte der nun seit zehn Jahren unermüdlich missionarische Papst Franziskus so oft wie diese Bitte: „Betet für mich!“.

Nach dem am 11. Februar 2013 verkündeten überraschenden Rücktritt von Papst Benedikt XVI. stand das Kardinalskollegium vor der Aufgabe, einen Papst und Nachfolger Petri zu wählen, der überzeugend die Kirchenleitung in die Hand nimmt und einige neue Akzente setzt. Einen Favoriten für die Wahl gab es nicht. Den dann gewählten Erzbischof von Buenos Aires, den Jesuiten Jorge Kardinal Bergoglio, hatten die „Vatikanisten“ der Medien nicht auf dem Schirm. Anderen Südamerikanern, einem Afrikaner und dem Mailänder Kardinal Angelo Scola, der wie der Pole Wojtyła und der Deutsche Ratzinger der italienischen Bewegung „Comunione e Liberazione“ und dem Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar nahestand, wurden größere Chancen eingeräumt. Die Kardinäle aber wussten, dass schon im Papstwahlen von 2005 Jorge Bergoglio nach Ratzinger die meisten Stimmen bekam. Seine eindringlichen Reden im Vorkonklave machten ihn dann für immer mehr Kardinäle zur wählbaren Option, mit der sich die Hoffnung auf einen neuen Aufbruch verband. Nach dem eher schüchternen und zurückhaltenden Papst Benedikt XVI. sollte jemand gewählt werden, der Kurie und Kirche kraftvoll aus einer gewissen Sackgasse herausführen konnte.

Seinen ganzer Kontinent in Rom

Mit seiner ungewöhnlichen Namenswahl „Franziskus“, die die Kardinäle ja vorher nicht kennen konnten, entstand beim neuen Papst, der nicht in den Apostolischen Palast, sondern in ein (besser ausgestattetes) Gästehaus einzog, das Programm einer „Franziskus-Option“, das neben dem Schwerpunkt Armut drei andere zentrale Themenfelder beinhaltete: die gelebte Barmherzigkeit, die Synodalität und die Mission. Mit einem an der Kurie vorbei einberufenen Kardinalsrat, der alle Kontinente vertrat, sollte eine Kurienreform angegangen werden. Mit einer Philippika über 15 Krankheiten der Kurie (unter anderem „spirituelles Alzheimer“), wie vor Weihnachten 2014 in einem Empfang der Kurienmitarbeiter, machte er sich nicht nur Freunde. An Pfingsten 2022 ist die Kurienreform mit dem Dokument „Praedicate Evangelium“ dann nach vielen Beratungen zu einem Abschluss gekommen.
Papst Franziskus ist Südamerikaner.

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Er bringt seinen ganzen Kontinent mit nach Rom, steht aber nicht den radikalen Befreiungstheologen nahe, sondern der von Gedanken Romano Guardinis und Henri de Lubacs inspirierten „Teologia del Pueblo“ (Theologie des Volkes) des argentinischen Priestertheologen Lucio Gera, den er als Erzbischof 2012 in seiner Kathedrale in Buenos Aires beigesetzt hat. Bei Gera geht es wie bei dem Jesuiten Pierre Ganne um „Die Prophetie der Armen“ (Einsiedeln 1986). Bergoglio zog 1984 in einem Aufsatz eine Verbindung von Hans Urs von Balthasars Schrift „Die Wahrheit ist symphonisch“ (Einsiedeln 1972) zum Dokument von Puebla, wo die dritte Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats 1979 den Begriff der „vorrangigen“ (span. preferencial) Option für die Armen in die Diskussion einbrachte. Diese Formulierung war nicht unumstritten. Im von Papst Johannes Paul II. bei seiner ersten Auslandsreise nach Mexiko Ende März 1979 approbierten Abschlussdokument heißt es unter anderem: „Die vorrangige Option für die Armen hat als Ziel die Verkündigung Christi […] Diese Option, die durch die Ärgernis erregende Realität des wirtschaftlichen Ungleichgewichts in Lateinamerika erfordert wird, muss dazu führen, ein würdiges und brüderliches Zusammenleben zu begründen und eine gerechte und freie Gesellschaft aufzubauen. “

Die lateinamerikanische „Option für die Armen“ will Papst Franziskus durch seine Namenswahl, aber auch im Lebensstil und in der Amtsführung verstärken. Er steht damit in der Tradition des kurz vor Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils von 40 Bischöfen auf Initiative von Dom Hélder Camara und Kardinal Giacomo Lercaro in den Domitilla-Katakomben geschlossenen „Katakombenpakts“, in dem sich die anwesenden Bischöfe, zu denen auch zwei deutsche Weihbischöfe (Julius Angerhausen, Hugo Aufderbeck) gehörten und denen sich später viele anschlossen, als „Kirche der Armen“ zu einem Leben in Bescheidenheit verpflichteten. Ein Katakombenpakt wurde am selben Ort im Herbst 2019 während der Amazonien-Synode erneuert als „Pakt für das Gemeinsame Haus“, das Franziskus in seiner Schöpfungsenzyklika „Laudato si“ (2015) erwähnt.

Barmherzigkeit triumphiert

Bei seinem ersten öffentlichen Angelusgebet nach der Papstwahlen gab Franziskus eine auffällige Empfehlung für das auch an Papst Johannes Paul II. anknüpfende Buch „Barmherzigkeit. Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens“ (Freiburg 2012) von Walter Kardinal Kasper, der zu Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. theologisch immer in einer gewissen Spannung stand. Zum 50. Jahrestag des Konzilsendes rief er ein außerordentliches Heiliges Jahr der Barmherzigkeit (2015/2016) aus, in das auch Priester der Piusbruderschaft integriert waren. Die Nähe zu Kasper zeigte sich dann wieder in den beiden Familiensynoden, wo es auch um die Frage der Zulassung wiederverheiratet Geschiedener zur Eucharistie ging. Mit einer Fußnote in seinem Schreiben „Amoris laetitia“ (2016) machte er diese möglich und erntete dafür kritische „Dubia“ von vier Kardinälen. Dass diese öffentlich gemacht wurden, hat (wie man erst seit kurzem weiß) der emeritierte Papst Benedikt XVI. bedauert. Auf einen homosexuellen Menschen angesprochen gab Franziskus die berühmt gewordene Antwort „Wer bin ich, um ihn zu verurteilen?“. Barmherzigkeit „triumphiert über das Gericht“ (Jakobus 2, 13), soll aber soziale und individuelle Gerechtigkeit nicht verdrängen.

Das belegt Franziskus auch mit Zitaten aus der Summa des Thomas von Aquin. Das von Beginn seines Pontifikates zentrale Konzept der Synodalität soll die Kirche des dritten Jahrtausends prägen. Sie ist vor allem ein christlicher und respektvoller Stil des Umgangs, der nicht das kirchliche Amt unterminiert, sondern es im Austausch untereinander und mit dem gläubigen Volk zu einer synodalen eucharistischen Communio werden lässt. Mit Zustimmung von Papst Franziskus veröffentlichte die „Internationale Theologische Kommission“ 2018 die hilfreiche Studie „Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche“. Der Ansatz dieser Synodalität, die auch die römischen Bischofssynoden 2023 und 2024 thematisch prägen wird, kreist nicht um Macht- und Strukturfragen wie der deutsche „Synodale Weg“. In einem weltweiten synodalen Prozess will er in anderer Form zwar ähnliche Themen, auch die schrecklichen Missbrauchsskandale und ihre Ursachen, behandeln, aber nicht Lehre und Struktur der Kirche von Grund auf „elitär“ verändern. Vor allem möchte Franziskus mit Synodalität der Kirche die Grundversuchung eines selbstherrlichen „Klerikalismus“ austreiben. In einem Gespräch mit Eugenio Scalfari sagte er im Oktober 2013: „Wenn ich einen Klerikalen vor mir habe, werde ich schnurstracks antiklerikal. Klerikalismus sollte eigentlich nichts mit dem Christentum zu tun haben.“ Diese Kritik nach innen ist ungewöhnlich und hat manche verletzt. Moralismus kann selbst klerikalistisch werden. Aber haben Jesus und viele Heilige nicht oft ähnlich provoziert?

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Option für eine missionarische Kirche

Anders als seine Vorgänger besuchte Papst Franziskus in den zehn Jahren seines Pontifikates kein einziges Mal sein Heimatland Argentinien. Er besuchte auch keine großen Hauptstädte, sondern geht an die Ränder, angefangen mit der Flüchtlingsinsel Lampedusa, und ernennt Kardinäle in kleinen abgelegenen Ländern. Franziskus‘ Mission geht nach außen und nach innen. Sie führte ihn auch nach Abu Dhabi zu einem Großimam, mit dem er die (genderfreie) Erklärung „Über die Brüderlichkeit aller Menschen“ unterzeichnete (2019), die dann zur Enzyklika „Fratelli tutti“ (2020) führte.

Der bekannte Zisterzienserpater Karl Wallner, Nationaldirektor der Päpstlichen Missionswerke in Österreich, sieht bei den Freikirchen oft die einzigen in unserer westlichen Gesellschaft, „die den Mut zu einer Primärmission etwa unter den Migranten haben“, und zitiert deren Spruch: „The Church must send or the church will end.“ Er verweist auf Franziskus‘ dramatischen Appell zur Mission in seinem großen Antrittsschreiben „Evangelii Gaudium“ zum Abschluss des Jahres des Glaubens, das an stimulierender Programmatik nicht zu übertreffen sei. Es geht ihm dort wie seinen Vorgängern um eine „missionarische Umgestaltung der Kirche“ (1. Kapitel): „Jetzt dient uns nicht eine reine Verwaltungsarbeit. Versetzen wir uns in allen Regionen der Erde in einen Zustand permanenter Mission.“ (25). Echte Mission ist kein Aktivismus, sondern muss getragen sein vom Gebet. Keinen Satz sagte der nun seit zehn Jahren unermüdlich missionarische Papst Franziskus so oft wie diese Bitte: „Betet für mich!“.

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