Heiligenlegenden stehen nicht gerade hoch im Kurs. Sie gelten als erfundene Geschichten, die in einer weniger aufgeklärten und erleuchteten Zeit erdacht wurden,um den Ruhm von Menschen zu mehren, über die man nichts Genaues wusste oder die es nie gegeben hat. Wissenschaftlich belegbar sind sie nicht. So dachte man zumindest und legte deshalb viele der alten Erzählungen zu den Akten. Auch da, wo Legenden noch in Erinnerung geblieben sind, wie beispielsweise im Falle des heiligen Bischofs Paulinus von Trier, hält man sie eher für Erzähltraditionen einer Zeit, die noch stark in magischen Vorstellungen verhaftet war.
„Wirft man einen Blick in die Kulturgeschichte unserer eigenen Vergangenheit
und zieht im Vergleich den Umgang indigener Völker mit der ihren heran,
zeigt sich, dass eine Vernachlässigung der überlieferten Geschichten ein Verlustgeschäft ist“
Diese Sichtweise wird seit dem Beginn der Landesausstellung zum Untergang des Römischen Reiches in Trier ernsthaft infrage gestellt. Denn sie präsentiert an einem der drei Ausstellungsstandorte, dem Museum am Dom, neueste Forschungsergebnisse, in denen ausgerechnet eine streng wissenschaftliche Herangehensweise, die man aus der forensischen Ermittlungstechnik kennt, den Wahrheitsgehalt jener Geschichte bestätigt, die man bisher für legendär gehalten hat, nämlich die Translation der Gebeine des Heiligen. Der starb in der Verbannung, in die er geschickt wurde, weil er einen anderen Heiligen, Bischof Athanasius, der bei Paulinus Vorgänger im Bischofsamt in Trier Asyl gefunden hatte, gegen dessen Verurteilung durch Kaiser Constantius verteidigte.
Das Thema, der Dreifaltige Gott, war für Paulinus zu Recht zentral genug, um sich dafür aus seiner Heimat vertreiben zu lassen. Er wurde nach Phrygien, in die heutige Türkei geschickt, wo er bis zu seinem Tode um 358 n. Chr. blieb. Einer seiner Nachfolger, Bischof Felix von Trier, soll seine Gebeine, so die bislang für eine Legende gehaltene Erzähltradition, noch im vierten Jahrhundert in die Heimat zurückgebracht und am 31. August, dem späteren Gedenktag des Heiligen, beigesetzt haben. Im Jahr 1072 wurden die Reliquien in einen Holzsarg gebettet und in der Kirche St. Paulin in Trier aufbewahrt.
Wenn Vorurteile Erkenntnis verhindern und Technik Legende verifiziert
Was aus Sicht der Historiker gegen eine Translation sprach, ist nicht nur der sehr lange Weg, den man von Trier bis nach Phrygien und wieder zurück bewältigen muss. Eine so frühe Überführung von Reliquien war ganz einfach unerhört. Man hatte keine Zeugnisse über einen solchen Vorgang. Heilige wurden in der Spätantike, dem Zeitraum, über den hier die Rede ist, allenfalls als Märtyrer an ihren Gräbern verehrt. Mit anderen Worten: Die in der Legende
enthaltene Realität passte nicht in das den Wissenschaftlern geläufige Denkschema und wurde deshalb infrage gestellt.
Genau sie, die Realität rund um die geheimnisvolle Reise des heiligen Paulinus steht angesichts der sensationellen neuen Forschungsergebnisse, die in Trier präsentiert wurden, nun wieder im Zentrum des Interesses. Ausgelöst wurde dies durch die Entdeckung der Puppenhülle einer Fliege im Bereich der Nasenhöhle des Skelettes. Solche Hinterlassenschaften von Insekten zu untersuchen, ist Teil der forensischen Entomologie und kann überraschende Ergebnisse hervorbringen. Die Schmeißfliegen, um deren Puppenhülle es hier geht, sind in der Forensik von enormem Interesse, da sie den Körper in der Regel unmittelbar nach dem Tod eines Menschen besiedeln, sich verpuppen und das viele hunderte oder gar tausende Jahre haltbare Puparium zurücklassen. Die Art der Fliege zu bestimmen, ist normalerweise gar nicht so leicht.
Die Schmeißfliege im Nasenloch und der Rückweg des Bischofs
Im Fall der Reliquie des heiligen Paulinus jedoch war der Körper der Larven bzw. Maden mit auffälligen fleischigen Fortsätzen besetzt, einem Merkmal, das nur einer ganz bestimmten Schmeißfliegenart eignet, der Chrysomya albiceps. Möglich war diese Entdeckung, weil sich in dem in der Nasenhöhle des Skeletts befindlichen Puparium noch Reste der Fliege befanden. Sichtbar gemacht werden konnte dessen Inneres in zwei High-Tech Laboren in Darmstadt und Karlsruhe, in denen das Puparium von außen und innen abgespannt wurde. Der Darmstädter Insektenscanner mit seiner besonderen Schärfentiefe wurde extra für die allseitige Insektenfotografie entwickelt.
Normalerweise kommt er zum Einsatz, wenn es darum geht, Insektensammlungen in Museen zu digitalisieren. Hinsichtlich des heiligen Paulinus trug die aufgefundene Fliegenlarve deshalb zur Verifikation der Legende bei, weil sich herausstellte, dass sie sich bis zum Jahr 1000 nur in tropisch-subtropischen Gebieten verbreitet hat. In unseren Breiten gab es solche Schmeißfliegen in der Spätantike noch nicht, denn es wäre ihnen hier einfach zu kalt gewesen. Ein weiteres wichtiges Ergebnis der wissenschaftlichen Untersuchung ist das Fehlen von Eiern weiterer Fliegen. Dass sie nicht gefunden wurden, führen die Forscher darauf zurück, dass die Reliquie tatsächlich zu einem sehr frühen Zeitpunkt nach Trier zurückgebracht und mögliche Eier durch die Präparationsmaßnahmen vernichtet wurden.
Der Scanner, die Reliquien und die Hochzeit der Widersprüche
Der Fall der Reliquien des heiligen Bischofs Paulinus ist nicht der einzige, bei dem eine genauere Untersuchung dazu beitrug, den wahren Kern der Legende freizulegen. Auch die Reliquien der Heiligen drei Könige in Köln, die im Jahr 1864 in Augenschein genommen wurden, machten sichtbar, dass die Darstellungen der drei Könige in drei Lebensaltern einen greifbaren Hintergrund hatten. Denn die Reliquien gehörten zu drei Männern, die etwa 12, 30 und 50 Jahre alt waren. Und auch die 1979 vorgenommene Untersuchung des Stoffes, in den sie gehüllt sind, bekräftigt, dass die Legende mehr als eine schöne Geschichte ist, stammt er doch aus der Antike und aus dem Orient.
Nun kann man sich fragen, warum nicht schon früher jemand darauf gekommen ist, einfach mal genauer nachzusehen, wie es sich mit den Reliquien des heiligen Bischofs Paulinus und seinen Gebeinen verhält. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Die vorgefassten Meinungen waren dafür auf allen Seiten und in jeder Hinsicht einfach zu stark. Da waren zum einen diejenigen, die Legenden, zumal solche über Heilige, sowieso für fromme Erfindungen hielten. Mit wissenschaftlichen Mitteln etwas zu untersuchen, was es in ihren Augen gar nicht gab, nämlich den wahren Kern einer Legende, hielten sie, was durchaus logisch und nachvollziehbar ist, gleichermaßen für Geld- und Zeitverschwendung. Dann waren da diejenigen, die ehrfurchtsvoll und mit gläubigem Herzen mit den Reliquien der Heiligen umgingen. Für sie kam eine wissenschaftliche Untersuchung nicht infrage, weil sie sie nicht brauchten. Ihrem Glauben wurde durch eine solche Untersuchung nichts hinzugefügt. Im Gegenteil, eine solche Untersuchung hätte in ihren Augen einen Mangel an Reverenz bedeutet.
Hochzeit zwischen Legende und Technik
Nun aber scheint es, dass durch die Verbindung von Technik und Legende ein neues Forschungsgebiet entsteht, das eine wichtige Tiefenwirkung auf unsere Gesellschaft haben kann. Denn deren Entwurzelung und der mit ihr verbundene Werteverfall stehen in einem engen Zusammenhang damit, dass überlieferte, sinnstiftende Geschichten nicht mehr geglaubt werden. Wirft man einen Blick in die Kulturgeschichte unserer eigenen Vergangenheit und zieht im Vergleich den Umgang indigener Völker mit der ihren heran, zeigt sich, dass eine Vernachlässigung der überlieferten Geschichten ein Verlustgeschäft ist.
Dies gilt nicht nur deshalb, weil durch die Verachtung scheinbar legendärer Berichte deren faktischer Kern aus dem Blick gerät, sondern weil diese Erzählungen in ihrer Mehrschichtigkeit den Menschen mit Herz und Verstand in einer umfassenderen Weise erreichen und so eine tiefere Wirkung entfalten, als Fakten allein es zu tun vermögen. Diese ganzheitliche Performativität wiederzugewinnen wäre ein hohes Gut, das eine persönliche Gottesbeziehung entscheidend fördern würde. Vielleicht ist es deshalb an der Zeit, auch die Hochzeit der scheinbaren Widersprüche zwischen Technik und Legende zu wagen, weil sich diese ungewöhnliche Verbindung als fruchtbringend und heilsam erweisen kann.
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