Kritik sollte zum Wort des Jahres gekürt werden. Überall, wo man hinschaut, heißt es im intelligenten Milieu: Kritik, Kritik und nochmals Kritik. Ob „Critical Race Theory“ oder „Kritische Theorie“ oder allumfassend „Systemkritik“. Wer heute etwas auf sich hält, schmückt sich mit dem Etikett „Kritik“. Die „Moral“ um „wokeness“ und „political correctness“ muss daher aufpassen. Die „Kritik“ könnte ihr bald den Platz wegräumen. Als leere Worthülse. Denn um eine Corona-Metapher zu nutzen: das kritische Denken befindet sich noch immer im Lockdown. Statt vernünftiges, reflektierendes Denken wehen zunehmend emotionale, reflexhafte Winde in den Fluren von Universitäten, Redaktionen und Theaterhäusern. Ein Denken an den methodischen Kriterien der Wissenschaft wird rarer. Um es mit Kant zu formulieren: „Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. h. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.“
Trotzdem mehr Hochschulreifen als zuvor
Dabei gibt es durchaus Handanweisungen zum kritischen Denken. Wie das Trainingsmodell mit den drei Komponenten „Reflection“, „Reasons“ und „Alternatives“: Zunächst einmal sollen schnelle Urteile vermieden werden, es soll nicht sofort alles geglaubt werden, was einem präsentiert wird und was jemand selber denkt. Hiernach soll sich der kritische Geist Fragen nach Quelle, Urheber und Informationen stellen. Zuletzt kommt die bewusste und gezielte Suche nach alternativen Erklärungen. Klingt nicht schwer, ist auch nicht schwer.
Trotzdem tun sich viele Berufsintelligente mit kritischem Denken schwer. Wieso? Durch den bisher angestiegenen Wohlstand sind die gesellschaftlichen Anforderungen überall gesunken. „Mit Ausbreitung über breitere Schichten, die nur in karger Freizeit mit den Voraussetzungen begrenzter Schulung geistige Interessen pflegen können, muß das Niveau der Bildung sinken, ihr Inhalt flacher, ihre Substanz dünner werden“, konstatierte bereits im Jahr 1949 der deutsch-dänische Soziologe, Theodor Geiger. Konkret auf die heutigen Zeiten übertragen, bedeutet das: Vergleicht man die Zentralabituraufgaben der einzelnen Bundesländer im Vergleich, erkennt man ein kontinuierliches Absenken fachlicher Anforderungen. Wie in Baden-Württemberg. Dort fehlen mathematische Aufgaben im Schwierigkeitsgrad auf dem Niveau einer Abschlussprüfung in Realschulen, sogar in Leistungskursen.
Gleichzeitig erlangen so viele junge Menschen wie nie zuvor die Hochschulreife. 36 Prozent eines Jahrgangs schließen mittlerweile die Schule mit der Abiturprüfung ab. Im Jahr 2000 waren es noch 22 Prozent. Die Abiturientenquote liegt in den einzelnen Bundesländern sogar zwischen 40 und 55 Prozent. In den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts waren es noch zwischen knapp 20 und unter 30 Prozent. Zudem steigt die Abitur-Durchschnittsnote kontinuierlich an. Im Jahr 2022 lag sie zwischen 2, 15 in Bayern und 2, 0 in Schleswig-Holstein. Bundesweit kamen die Abiturienten so durchschnittlich auf eine Note von fast 2, 0. So gute Ergebnisse erzielte kein anderer Jahrgang davor in der Geschichte der Bundesrepublik.
Wir stecken in einer Inflation von Krisen fest
Doch der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Peter-André Alt, stellte bereits 2019 in einem Interview mit der „Neuen Westfälischen“ fest: „Es gibt gravierende Mängel, was die Studierfähigkeit zahlreicher Abiturienten angeht. Das gilt insbesondere für die Fächer, in denen Mathematik die Grundlage ist. [...] Die Studienanfänger erfüllen die Voraussetzungen deutlich schlechter als früher. Das betrifft die Ingenieurswissenschaften und die Naturwissenschaften, aber beispielsweise auch die Volks- und Betriebswirtschaftslehre. […] Selbst Literaturwissenschaftler sagen: Es wird immer schwieriger, die jungen Menschen in den Seminaren zum Lesen zu bringen. Längere Texte zu lesen und zu schreiben, falle den Studierenden schwerer.“
Wo demnach Intelligenz drauf steht, ist de facto immer seltener Intelligenz zu finden. Das gilt gleichermaßen für den Bachelor wie für den Doktor und für den Professor. Intelligenz, gar Intellektualität, war und ist gesellschaftlich nicht gefragt, gefordert und wird nicht gefördert. Nicht einmal mehr „Halb-Gebildete“, wie sie der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe, Erich Fromm, nannte, besiedeln die Stätten der Intelligenz. Vielmehr sind es „Viertel-“ und „Achtel-Gebildete“. Das rächt sich nun bitter. Eine Krise nach der anderen reiht sich an. Schon seit Jahrzehnten. Ob Wirtschafts-Krise und Migrations-Krise oder Energie-Krise und Klima-Krise. Wir stecken in einer Inflation von Krisen fest. Multiple Krisen, Krisen in Dauerschleife, unendliche Krisen.
Dabei sind es zum größten Teil hausgemachte Krisen, die uns überhäufen. Krisen, die aus einer Krise der Intelligenz erwachsen, wie etwa die Energieunsicherheit, in die man sich durch freiwillige Unmündigkeit gegenüber Russland manövriert hat. Sozialpsychologisch betrachtet: Einerseits, weil „Viertel-“ und „Achtelgebildete“ qua ihrer sozialen Position der Überzeugung sind, gebildet, kompetent und intelligent zu sein. Doch Ausbildung hat heute weniger denn je mit Bildung, Kompetenz und Intelligenz zu tun („Akademisierungs-Wahn“). Deswegen fehlt es vielen auch an Entschlusskraft. Deswegen orientieren sich viele primär und überwiegend an ihrer Bezugsgruppe. In der Sozialpsychologie nennt man das „sozialen informationalen Einfluss“. Andererseits sind viele anfälliger, sich, auch gegen die Vernunft oder die eigene Überzeugung, den Gruppennormen anzupassen. Sozialpsychologen sprechen hier von „sozialem normativen Einfluss“. Andererseits spielt hier ein weiteres sozialpsychologisches Phänomen eine Rolle, das der Psychiater, Hans-Joachim Maaz, beobachtet: „Normopathie“, der Wunsch, wie die anderen zu sein. Weitergedacht, bedeutet es: Mittelmaß gelangt an die Spitze. Mittelmaß präferiert Seinesgleichen. Mittelmaß will wie die anderen sein. Ergo: Mittelmaß bleibt unter sich.
Das Ausmaß dieser Misere sehen wir gegenwärtig: Anstatt Probleme von Beginn an zu lösen, wurden diese Jahrzehnte lang vor sich hin geschoben. Das Ergebnis? Die Krise wurde zum Dauergast. Das Antidot? Leistung muss sich wieder lohnen – nicht moralische oder politische Überzeugung – und das wird es auch. Denn bald wird das Maß an Krisenfestigkeit überstrapaziert. Dann kommt die Stunde der Intelligenz. Dann ist auch wieder Kritik das, was sie einmal war: Sie hat Lösungen parat und schätzt Leistung. Kurzum: Es ist die Stunde der intelligenten Kritik.
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