Es war im Sommer 2010: zum Ökumenischen Kirchentag in München war ein russlanddeutscher Kirchenchor aus Königsberg/Kaliningrad gekommen. Begleitet wurde er von einem älteren Ordenspriester, einem Ostpreußen aus Tapiau/Gwardeisk. Ich konnte ihm bei der Orientierung in München behilflich sein. Niemand aus dem Chor verstand Deutsch. Zum Abschied drückte er mir, seinem ostpreußischen Landsmann, fest die Hand und sagte: „Eins ist wichtig, vergesst den Nationalismus.“
Und heute? Die Hoffnungen auf gute Nachbarschaft unter den osteuropäischen Völkern, aber auch mit dem Westen haben sich zumindest zwischen Russland und dem westlichen Europa nicht erfüllt. Russen und Litauer werden zu Feinden. Polen – zuletzt nach 1945 von den Russen verfolgt und in der „Aktion Wisla“ gewaltsam aus ihrer bisher ukrainischen Heimat ausgesiedelt – hat früheren Streit vergessen und hilft ukrainischen Flüchtlingen nach Kräften.
„Die Korrespondenten in Moskau müssen die Zensur,
sogar die Ausweisung fürchten
und verhalten sich entsprechend möglichst konform“
Noch vor Jahren hatte ich in Allenstein /Olsztyn erlebt, wie Ukrainer sich von Polen gedemütigt fühlten. Und in meiner Heimatstadt, dem kleinen, aber einst kulturell hochstehenden Braunsberg (heute Braniewo) mit einer katholischen Akademie, kannte vor Jahren der polnische Propst seinen orthodoxen Amtsbruder nicht. Die Einwohner von Braniewo – sechs Kilometer entfernt beginnt der Oblast Kaliningrad – wird es beruhigen, wenn die Truppen in Litauen verstärkt werden. Auch der NATO-Beitritt von Finnland und Schweden verspricht mehr Sicherheit. Finnland hat im sogenannten „Winterkrieg“ seine Erfahrungen mit einem Angreifer Russland gemacht.
Wir ehemaligen Braunsberger haben in unserer Heimatstadt viel investiert. Mein Onkel, der Theologieprofessor Gerhard Matern, sorgte für das erste Dach über der zerstörten Katharinenkirche. Eine neue Glocke stiftete ein ehemaliger Braunsberger. Auch der CDU Politiker Rainer Barzel spendete mehrfach für seine Taufkirche.
Deutscher Idealismus zerschellt an der brutalen Ideologie
Ein Familienmitglied, Anton Matern, steht heute auf einer Tafel der einstigen Pfarrer. Ende des 19. Jahrhunderts sorgte er für eine großflächige Sanierung der Kirche. Die Altstadt ist 1945 fast vollständig verschwunden, erhalten ist das einstige Novizinnenhaus der Katharinenschwestern. Sie wurden von der Braunsbergerin Regina Protmann gegründet und 1583 von Rom anerkannt, weil sie etwas Neues taten: Sie verließen die Klausur und kümmerten sich in der Stadt um Kranke, Hilfsbedürftige und die Mädchenbildung. Im Klostergarten ruht meine Großtante Schwester Huberta Matern. Das große Kloster ist heute die Zentrale für die Kongregation, die auch in Afrika und Lateinamerika wirkt. Der deutsche Mittelpunkt steht mit mehreren Häusern und großer Kirche im Ermlandweg in Münster gegenüber dem Ermlandhaus in dem heute auch die Schlesier und Glatzer ihre Büros haben. Die Visitaturen wurden auf Anordnung der Bischofskonferenz (oder Roms) 2016 aufgelöst. Ihre Arbeit hat der Verein Ermlandfamilie übernommen. Er bildet eine wertvolle Brücke nach Polen.
Unser deutscher Idealismus, unser Glaube an die Möglichkeit einer gerechten Weltordnung, mit dem Königsberger Kant auf dem Weg zu einem „ewigen Frieden“ den die Stadtführer in Kaliningrad immer beschwören, sieht sich nun einer brutalen Ideologie gegenüber.
Putin überfiel seine „ukrainischen Brüder“, die ihm eigentlich auch in der Orthodoxie – gleich welcher Richtung – verbunden sein sollten. Die vor dem Krieg gegebenen Warnungen der osteuropäischen Regierungen wurden in Berlin nicht genügend ernst genommen. Er griff selbst Kiew, „die Mutter aller russischen Städte“, an, wo der heilige Vladimir am Dnjepr mit dem Kreuz segnend nach Osten schaut. Höhlenkloster und Sophienkirche gehören zum UNESCO Weltkulturerbe. Von Kiew zog 988 das Christentum nach Russland.
Wer hatte schon Ahnung von oder Interesse an der Ukraine?
Aber wen interessierte das schon in Deutschland? Als vor Jahren die Freie Ukrainische Universität in München zu einer Pressekonferenz lud, war ich als einziger Journalist gekommen. Heute – seit Putins Krieg – berichten die Medien ausführlich über diese kleine Hochschule mit rund dreihundert Studierenden, und die Universitätskanzlerin wird bei Empfängen eigens begrüßt und beklatscht.
Selbst deutsche Akademiker hatten lange keine Ahnung, wo die Ukraine, schließlich das zweitgrößte Land Europas, liegt. Wer als Student ins Ausland will, denkt an westliche Universitäten. Im Urlaub zieht es die Jugend in die südliche Sonne. Vor drei Jahren wollte ich mit meiner Frau in der Nähe meiner Heimat Urlaub machen. Wir entschieden uns für Zoppot/Sopot. „Wo liegt das?“, fragten die Touristiker in zwei renommierten Reisebüros. Ein Hotel zu buchen war nicht möglich, Sopot war nicht in der Software. Über das Internet war schnell ein Hotel gefunden, zweimal täglich fliegt die „Lufthansa“ nach Danzig/Gdansk mit einem modernen Flughafen, von dem manche im Westen lernen können. Sonnige Tage gab es am Ostseestrand und in 90 Minuten war man per Auto in Braunsberg. Eine Bahnkarte von München nach Braunsberg gibt es nicht. Also reiste ich vor Jahren mit einer Karte von Berlin nach Danzig, das für die Bahn als Braniewo galt. Keinen Schaffner kümmerte das.
Die Fläche Deutschlands - ein einziges Bistum
Und Russland? Von Hannover aus kann man mit Aeroflot nach Saratov, einst ein Zentrum der Wolgadeutschen, fliegen. Dort ist der Sitz des aus der Gegend von Erfurt stammenden Bischofs Clemens Pickel. Wie in Westdeutschland Schüler Briefkontakte mit Jugendlichen in Amerika oder Frankreich pflegten, wurde er in der DDR zum Russlandfan. Als Pfarrer ging er nach Marx, wo er 1998 Bischof von Südrussland wurde. Sein Bistum ist größer als die Bundesrepublik. Seine Wohnung war ein blaues Holzhäuschen ohne Dusche und WC. Heute wohnt er in Saratov, wo der am Wolgaufer eine Kirche baute.
Zum 150jährigen Bestehen des Bistums Tiraspol – die Stadt liegt heute in Transnistrien – deshalb die Feier am damaligen Wohnsitz des Bischofs in Marx. 1999, als damaliger von der DBK berufener Vorsitzender des „Katholischen Flüchtlingsrates in Deutschland“, vertrat ich die katholische Kirche Deutschlands. Kein Bischof war bereit gewesen, nach Marx zu reisen. Der aus der Nähe von Allenstein stammende Berliner Georg Kardinal Sterzinsky hatte seinen Mitbrüdern erzählt: „Beim Bischof Pickel gibt es kein Bier und nachts muss man über den Hof.“ Ja, das stimmte, ließ mich aber nichts vermissen. Der Bischof, heute Vorsitzender der russischen Bischofskonferenz, lebt einfach und sparsam.
Die russische Kultur wird von der Politik mit ins Desaster gezogen
Putins Angriffskrieg hat nicht nur eine totale Umweltzerstörung und scheinbare Überflüssigkeit einer Friedensforschung und christlicher Friedensethik zur Folge, sondern er verstärkt die Unkenntnis vom Osten. Russland ist der weltweit größte Umweltsünder, der internationale Bösewicht. Wer will jetzt russische Kultur kennen lernen? Die westliche Welt schneidet deren Intendanten, Dirigenten, Sängerinnen und Schauspieler. Westliche Studenten wollen dort derzeit nicht studieren, Unternehmer nicht investieren und Touristen nicht dorthin reisen. Auch kirchliche Hilfswerke werden es merken: Wer spendet denn jetzt für Russland? Spenden gibt es für die Ukraine und die von dort Geflohenen. Geholfen werden muss aber auch den russischen Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern, die zu uns gekommen sind. Sie lernen den Westen noch besser kennen.
Die Arbeit von Journalisten wird in und von Moskau behindert oder unmöglich gemacht. Die „Deutsche Welle“, deren Redakteur ich fünf Jahre war, darf nicht mehr gehört werden. Ein objektives Sprachrohr ist verstummt. Wie weit Nachrichten auf ihre Richtigkeit überprüft und hinterfragt werden können, lässt sich im Einzelfall nicht erklären. Militär – gleich welcher Seite – verrät nicht alles. Kriege sind eine Hochzeit der Manipulation und Zensur. Desinformation heißt die Devise! Das deutsche Korrespondenten-Netz ist ausgedünnt. Von Kiew aus kann man nicht über die Gesamtukraine berichten. Die Korrespondenten in Moskau müssen die Zensur, sogar die Ausweisung fürchten und verhalten sich entsprechend möglichst konform.
Viele russische Soldaten sind von unzivilisierter Rohheit
In St. Petersburg, wo ich die erste Fronleichnamsprozession nach 80 Jahren mitmachte, erlebte ich auf der Straße, wie junge russische Soldaten in Uniform einen Kameraden verprügelten. So ungezügelt und von ihren Offizieren nicht diszipliniert, verhielten sie sich in Butscha. Mich erinnert das an die Grausamkeiten der Roten Armee in Nemmersdorf Ende 1944.
Nicht nur der Badeurlaub in der Türkei, der Westen insgesamt wird zum Sehnsuchtsziel vieler Russen. Bad Ems, wo seit mehr als hundert Jahren reiche Russen kurten – die orthodoxe Kirche mit ihren sonntäglichen Gottesdiensten erinnert daran –, muss jetzt auf Gäste aus Russland verzichten. Vermögende ukrainische Gäste treten an ihre Stelle.
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