Christliche Mystik

Mystik Meister Eckharts: Der Christ und das Sein

Die Mystik Meister Eckharts ist aktueller, als es die Forschung wahrhaben will.
Teodoro von Urbino als Hl. Dominikus
Foto: IMAGO/? Fine Art Images/Heritage Images (www.imago-images.de) | Die Wiedererlangung der christlichen Dimension von Eckharts Mystik soll die gegenwärtige Tendenz des Niedergangs der organisierten Religion, der Technisierung und Virtualisierung der Lebenswelt thematisch miteinbeziehen.

Meister Eckhart wurde in den letzten zwei Jahrhunderten vielfach rezipiert, dabei meistens aber aus dem christlichen Kontext herausgelöst. Entgegen dieser Tendenz, die besonders in der neueren philosophisch-akademischen Forschung zu beobachten ist, soll die religiös-metaphysische Dimension von Eckharts Denken wieder aufgegriffen und in den Kontext der christlichen Lebensführung unter modernen Bedingungen gestellt werden.

Die religiöse Bedeutung der Mystik zurückgewinnen

Unter mittelalterlichen Philosophen nimmt die Figur Meister Eckharts eine besondere Stellung ein. Während im 19. Jahrhundert das geistige Erbe der meisten seiner Zeitgenossen schon zu leblosen Museumsexponaten erstarrt war, ging die Karriere seines Denkens erst richtig los. Der damals wiederentdeckte Eckhart bildete einen Referenzpunkt für zahlreiche Denker, die ihn als den Vorläufer ihrer eigenen Theorien angesehen haben. Nach den deutschen Idealisten wie Fichte, Hegel und Schelling waren es im 20. Jahrhundert in ganz anderem Zusammenhang vor allem der Chef-Ideologe des Nationalsozialismus Alfred Rosenberg und der Neomarxist Erich Fromm, die sich auf ihn in ihren programmatischen Entwürfen bezogen haben.

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Rosenberg sah in Eckhart einen Vorahner einer neuen germanischen Religion, die die Gleichsetzung der Seele mit Gott verkündet und dem Willen den Vorrang vor der Vernunft gegeben hat. Fromm seinerseits betrachtete Eckharts Denken im Sinne eines Plädoyers für die antikapitalistische Lebensform des Seins statt des Habens. Auch die neuesten Autoren der populären Bücher zur Spiritualität und Lebenskunst wie Eckhart Tolle ließen sich von dem Autor der „Deutschen Predigten“ inspirieren. Diese weit verbreitete Wahrnehmung Eckharts in der Moderne hat schon Schopenhauer mit seiner Formulierung auf den Punkt gebracht, dass nämlich Eckhart eine „wundervoll tiefe und richtige Erkenntnis“ besessen habe, sie aber nur schlecht habe mitteilen können, weil er seine Gedanken „in die Sprache und Mythologie des Christentums zu übersetzen“ hatte.

Unorthodoxe Sicht auf die Idee des Subjekts

Eckhart selber äußerte jedoch nie einen Zweifel an dem christlichen Glauben. Für ihn gab es keine Wirklichkeit außerhalb des christlichen Gottes, die Wirklichkeit selbst war für ihn in Gott enthalten. In seinen Predigten an die „ungelehrten Leute“ verband Eckhart in einer emotionalen, bildhaften Sprache theoretische Ansichten über die Verfassung der menschlichen Seele und ihre Beziehung zu Gott mit einer praktischen Lebensorientierung. Als seine hyperbolischen, teils provozierenden Formulierungen bei seinen Ordensbrüdern Verwirrung auslösten und schließlich zur Anklage am päpstlichen Hof führten, bekannte er sich ausdrücklich zum christlichen Gott und war von vornherein dem Urteil der Inquisition unterworfen.
Eckharts „unorthodoxe“ Sicht bestand in der Radikalisierung der Idee des Subjekts, dies macht seine Modernität aus. Seine von der Inquisition als verdächtig eingestuften Sätze, dass eine ewige unerschaffene Kraft in jeder Seele liege und jeder „gerechte“ Mensch in die Gottheit verwandelt werden könne, standen dem kanonischen Bild vom hierarischen Aufbau des Universums entgegen.

Für Thomas von Aquin beispielsweise gab es zwischen Gott und Mensch eine kaum zu überbrückbare Distanz, die nur durch die Gnade aufgehoben werden kann. Eckhart hielt dagegen eine vollständige Vereinigung der menschlichen Seele mit Gott für möglich, was später die pantheistischen und psychologischen Interpretationen seines Denkens bedingt hat. Für Eckhart führt der Weg zu Gott ins Innere des eigenen Ichs, wo der „Grund der Seele“ verborgen liegt. Den mystischen Vorgang der Vereinigung der Seele mit diesem Ur-Grund nennt Eckhart Gottesgeburt. Das ist kein einmaliger geschichtlicher Vorgang, sondern ein sich wiederholender Prozess.

In der Predigt „Abgeschiedenheit“ sagt Eckhart, dass die Voraussetzung dafür im Loslassen von allen Dingen besteht, sodass der Mensch leer wie ein aufnahmebereites Gefäß wird. Diese Wendung nach innen lasse die Außenweltkontakte unterbrechen und sogar das eigene Leben mit allen seinen Sorgen vergessen. Abgeschiedenheit wird von Eckhart als die höchste Tugend gepriesen. Der Zustand des absoluten Erfüllt-Seins von Gott wird bei Eckhart in unterschiedlichen Metaphern wie Unwissen, Ruhe, Schweigen und Dunkelheit beschrieben. Damit will er den absoluten Anfang in sprachlichen Bildern artikulieren, der sich aber eigentlich jeder Bildhaftigkeit entzieht. Diese Mystik macht Eckhart zum Lebensprinzip der wahren Christen. Es ist eine Mystik der Tat und meint keine Askese als Flucht vor der Welt. Sie ermöglicht, das Leben aus dem tiefen Grunde Gottes zu gestalten. Dies erläutert Eckhart an seiner unkonventionellen Interpretation der biblischen Erzählung aus dem Lukasevangelium von den Schwestern Maria und Martha. Die äußerlich aktive Martha steht in seiner Deutung höher als die nur Christus zuhörende Maria, weil sie die Kontemplation mit der Aktion verbindet. Maria dagegen weist mit ihrer rein kontemplativen Einstellung nur die gute Tendenz auf, die in der Wirklichkeit durch einen konkreten Inhalt noch nicht erfüllt wird.

Reduzierung der Mystik auf reine Ethik

Das sich in der Mystik gründende Handeln verwirklicht sich durch eine liebevolle Aneignung der Welt aus dem Gottes-Prinzip. Diese genuin christliche Botschaft steht im Gegensatz zur nationalistischen Deutung Eckharts. Rosenberg wollte Eckhart in sein manichäisch-dualistisches Weltbild einbeziehen, nach dem die Wirklichkeit einen Schauplatz für zwei widerstreitende Prinzipien – Licht und Finsternis, Geist und Materie – darstellt. Diese Eckhart-Interpretation lag der Radikalisierung von Fichtes Idealismus zugrunde, nach dem der in der Welt eingeschlossene Geist auf die Natur wie auf Lehm stößt, um sich in ihr zu behaupten und ihr eine Gestalt zu geben.

Die neomarxistische Interpretation Eckharts von Erich Fromm schenkt seinerseits der mystischen Gottesschau als dem Zentralelement seiner Lehre kaum Beachtung. Sie thematisiert bloß die Beziehungen der Menschen zueinander, die von der Haftung an das Ego, Begierde und Besitz befreit werden müssen. Auf die Quellen, das Wesen und die inhaltliche Bestimmung der durch das Selbst fließenden Energie, die den Menschen stattdessen bei seiner wahren Selbstverwirklichung füllen soll, wird dabei nicht näher eingegangen.

Dieser Trend zur Reduzierung von Eckharts Mystik auf reine Ethik wird im gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs noch weiter gesteigert. Dort verliert der Begriff der Mystik seine ursprünglich religiöse Bedeutung. Ein Parade-Beispiel für diesen Versuch der Entzauberung von Eckharts Mystik stellt die Vergabe des Meister-Eckhart-Preises von der Universität zu Köln dar. Ernst Tugendhat, der Preisträger von 2005, sagt in seiner Rede zu diesem Anlass, dass der Begriff der Mystik den Widerspruch zwischen Sichwichtignehmen und objektiver eigener Unwichtigkeit thematisiere. So sei Mystik, erläutert Tugendhat weiter, „nicht ein Gefühl und auch nicht eine Erfahrung“, „sondern ein Wissen und eine entsprechende Haltung“, wenn nämlich das Ich „an den Rand des eigenen Bewusstseins“ rückt.

Wenn aber die so verstandene Mystik mit den Abläufen im Hintergrund unserer alltäglichen Erfahrungen zusammenfällt, dann scheint es nur logisch und konsequent zu sein, sich von diesem Begriff in seiner eigentlichen Bedeutung zu lösen. Und tatsächlich ist diese Tendenz in der neuen akademischen Eckhart-Forschung festzustellen.

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Nicht auf die Metaphysik von Eckharts eingegangen

Kurt Flasch beispielsweise will Eckhart nicht als Mystiker, sondern als „Philosophen des Christentums“ bezeichnen. Der Begriff der Philosophie soll in diesem Kontext eine rationale Tätigkeit meinen, für die keine Glaubensannahmen und keine persönlichen Erfahrungen mit einer Gottesbegegnung notwendig seien. Eckharts Mystik als Lehre von außergewöhnlichen Erfahrungen hat mittlerweile ihren Platz in den Büchern zur Selbstmotivation gefunden. Mit Eckharts Hilfe wollen Coachs jeglicher Art dem Leser helfen, anhand meditativer Übungen der Hektik des modernen Lebens auszuweichen. Diese Autoren klammern jedoch die gesamtgesellschaftliche Perspektive der Vorstellungen vom guten Leben aus, sodass ihre Texte faktisch den Zweck befördern, sich an die verschwiegenen, aber geltenden gesellschaftlichen Orientierungen und Werte anzupassen. Außerdem wird in dieser Art von Literatur nicht auf die metaphysische Dimension von Eckharts Denken eingegangen. Die Strukturen des Bewusstseins, die uns, Menschen, ausmachen, stellen nach Eckhart einen Teil des größeren, alles umfassenden göttlichen Daseins dar, das auch dann besteht, wenn sich alle Träger der einzelnen Bewusstseine noch nicht oder nicht mehr am Leben sind.

Die Wiedererlangung der christlichen Dimension von Eckharts Mystik soll die gegenwärtige Tendenz des Niedergangs der organisierten Religion, der Technisierung und Virtualisierung der Lebenswelt thematisch miteinbeziehen. Aus dieser Perspektive erscheint Eckharts Christentum als Anliegen einiger weniger heroischen Individuen der Zukunft.  Die von ihnen verkörperte Tugend der Abgeschiedenheit macht die Seele gegen die Häufung von Bildern, akustischen Signalen, die Steigerung der Geschwindigkeit und die Verflachung der Lebensverhältnisse immun. Im vernebelten Sein soll Eckharts Mystik ermöglichen, aus eigener Kraft sich mit Gottes Licht verschmelzen zu lassen und es in stärker werdender Einsamkeit durch das Leben zu tragen.

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