Das europäische 16. Jahrhundert stand nach außen im Zeichen der Bedrohung Europas und der Christenheit durch die osmanisch-islamische Expansion. Nach der Eroberung von Byzanz und der Unterwerfung des Balkans drohte 1571 die Invasion Italiens und damit des westlichen Mittelmeerraums durch die osmanische Flotte. Erst der Seesieg der „Heiligen Liga“ unter Admiral Don Juan de Austria, einem unehelichen Sohn Kaiser Karls V., über die Osmanen bei Naupaktos im Golf von Patras am 7. Oktober 1571 rettete Europa vor der Eroberung durch die Osmanen. Doch aus dem kollektiven Gedächtnis Westeuropas ist die Schlacht von Lepanto, wie Naupaktos italianisiert heißt, fast vollständig geschwunden.
Das Mittelalter: Permanenter Abwehrkampf gegen den Islam
Wenn wir heute von Kolonialismus und Imperialismus sprechen, denken wir vielmehr automatisch an Europa und auch das Christentum als Täter. So ist es längst Usus, die Kreuzzüge, die mit dem Aufruf von Papst Urban II. im Jahr 1095 begannen, als protokolonialistische Eroberungszüge zu deuten (tatsächlich waren sie das auch). Kaum bekannt ist dagegen, dass dem Aufruf des Papstes ein Hilferuf des oströmischen Kaisers gegen die Seldschuken vorausgegangen war: Im August 1071, ein Vierteljahrhundert vor Beginn des Ersten Kreuzzugs, hatten nämlich die Seldschuken bei Manzikert Byzanz eine katastrophale Niederlage beigebracht; sie begründete die türkische Landnahme in Kleinasien, die 1453 mit dem Fall Konstantinopels vollendet wurde. Während der Name Manzikert in Westeuropa heute nur einer Minderheit ein Begriff sein dürfte, ist er in der Türkei bis heute ein populärer und von Präsident Erdogan gern bemühter Erinnerungsort. Und exakt ein halbes Jahrtausend nach Manzikert, 1571, wurde die Flotte des Sultans – die Dynastie Osman hatte die Seldschuken beerbt und Anfang des 16. Jahrhunderts auch den verwaisten Kalifentitel angenommen – auf ihrem Weg nach Westen im letzten Augenblick bei Lepanto gestoppt.

Der islamische Kolonialismus, wenn man ihn so nennen will, hat dabei nicht mit den Osmanen begonnen. Schon die Meilensteine der frühen Islamisierung sind Schlachtensiege (Yarmuk 636, Al-Qadisiya 638, Nehawand 642), die der Christianisierung dagegen Rechtsakte (Toleranzedikt von Mailand 313, Edikt von Thessaloniki 380, die Taufe Chlodwigs um 500). War die Christianisierung ein Prozess innerhalb der „griechisch-römischen Welt“, so war die Islamisierung ein expansionistischer Akt. Das Christentum, so ließe sich sagen, wurde angenommen, der Islam oktroyiert.
Natürlich verliefen beide Prozesse nicht eindimensional-schematisch, natürlich konnte der islamische Glaube so freiwillig angenommen gewählt werden wie der christliche gewaltsam aufgezwungen, und auch die Transformation der römischen in eine christliche Welt lief nicht gewaltfrei ab. Wollte man aber die Geschichte Europas zwischen dem siebten und dem 15. Jahrhundert – also in etwa der Zeitspanne, die wir „Mittelalter“ nennen – auf einen außenpolitischen Nenner bringen, dann war es die Geschichte des permanenten Abwehrkampfes gegen den Islam. Bereits in den 670er Jahren sollen Truppen des Kalifats bis nach Konstantinopel vorgestoßen sein, 711 siegten sie am Guadalete und unterwarfen Spanien und 717 standen sie abermals vor Konstantinopel. Nur mit Mühe und Not konnte der fränkische Hausmeier Karl Martell im Jahr 732 bei Tours und Poitiers, mitten in Frankreich, die islamische Expansion zum Halt bringen.
Das Christentum strebt nicht nach Weltmacht
Doch die Bedrohung durch das Kalifat blieb, und seine Religion, der Islam, war mit einem Anspruch auf weltliche Universalität und Allherrschaft ausgestattet, den das Christentum nicht besaß. Zwar steht auch im Matthäusevangelium, dass die Jünger Jesu in alle Welt gehen und die Völker lehren sollen, doch die eigentliche Stoßrichtung des Christentums geht nach innen, nicht nach außen, und das Christentum ist wesentlich a- oder vielmehr parapolitisch, was sich exemplarisch darin ausdrückt, dass der lateinische Papst auf Augenhöhe mit, wenn nicht gar über der höchsten politischen Instanz rangiert. Die Ebenbürtigkeit von Imperium und Sacerdotium ist ein ekklesiologisches Spezifikum des Christentums, das man gar nicht überschätzen kann.
Der größere Expansionsbewegung in den ersten zwei Dritteln des zweiten Jahrtausends war nicht der europäische Kolonialismus in Übersee, sondern der islamisch-osmanische Imperialismus. Vierhundert Jahre lang, von 1430 bis 1830, war Griechenland eine türkische Provinz und seine Bevölkerung erlitt hierbei wenigstens teilweise einen Ethnozid; erst 1912 wurde Albanien, die letzte osmanische Provinz auf dem Balkan, unabhängig. Die „Türkengefahr“ blieb auch nach Lepanto, endgültig gebannt war sie erst mit dem Frieden von Karlowitz 1699. Europa dagegen trat in der Frühen Neuzeit politisch noch kaum expansiv hervor; eine Ausnahme bildet Lateinamerika, das aber interessanterweise gerade nicht prioritär angeführt wird, wenn es um Europas Kolonialismus geht. Die europäischen Kolonien in Asien, Afrika und Nordamerika dagegen waren über lange Zeit Handelsniederlassungen ohne bedeutende administrative Struktur.
Eine politisch-territoriale Organisation und damit eine Erweiterung zum Imperialismus erfuhr der europäische Kolonialismus – ausgenommen Lateinamerika, das sich dann gerade emanzipierte – erst am Beginn der Moderne: 1784, ein Jahr nach der Niederlage Großbritanniens im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, wird die East India Company staatlicher Aufsicht unterstellt, 14 Jahre später treffen die englische und französische Flotte im Kampf um die Vorherrschaft in Ägypten bei Abukir aufeinander. Erst im 19. und frühen 20. Jahrhundert werden die afrikanischen Staaten nacheinander in europäische Kolonialreiche eingegliedert, wobei in Nordafrika hier oftmals der europäische an Stelle des osmanischen Kolonialismus tritt. Der transatlantische Sklavenhandel gehorchte zweifelsohne einer frühkapitalistischen Verdinglichungs- und Ausbeutungslogik und strafte in seiner Brutalität jede christliche Missionsattitüde Hohn; aber er beruhte auf Agreements zwischen europäischen Sklavenhändlern und afrikanischen Fürsten, nicht auf Eroberung. Zeitgleich betrieb bzw. duldete das Osmanische Reich Sklavenhandel wie schon die islamischen Mächte vor ihm seit dem 7. Jahrhundert.

Europäische Mächte warben für Abschaffung der Sklaverei
Ostasien geriet großenteils überhaupt erst im 19. Jahrhundert unter europäische Beherrschung: China erzielte wohl bis 1816 einen Handelsüberschuss gegenüber dem Westen, was sich erst mit dem Ausbruch des Tambora 1815, dessen Folgen die chinesische Landwirtschaft ruinierten, und dem Verlust der transatlantischen spanischen und portugiesischen Kolonien in den 1820er Jahren, der die westlichen Staaten ihres Zahlungsmittels im Chinahandel beraubte (die Chinesen akzeptierten nur Silber), änderte. Erst 1858 wurden, auch im Zusammenhang mit der russischen Expansion, die East India Company verstaatlicht, der letzte Mogulkaiser abgesetzt und die Kolonie „Britisch-Indien“ errichtet. Die direkte Herrschaft „Europas“ über Afrika wiederum, die von furchtbaren Gräueln begleitet war, kann man etwa von 1830 bis 1962 ansetzen.
Fünfhundert Jahre lang, von 1071 bis 1571, war die Türkengefahr der Grundbass des lateinischen Europas.
Die Europäer trieben Sklavenhandel, aber es war der Spanier Bartholomé de Las Casas, der Karl V. davon überzeugte, die Indios in der Neuen Welt als Menschen anzusehen und zu behandeln, es waren die europäischen Mächte, die auf dem Wiener Kongress die Sklaverei abschafften (und später indirekt auch die USA dazu drängten), und es waren die britischen Kolonialherren, die in Indien die Witwenverbrennung verboten. Wenn aber heute ausgerechnet Chinesen und Araber dem Westen am lautesten Kolonialismus vorwerfen, ist zu bedenken, dass es England und Frankreich waren, die 1917/18 die Araber vom osmanischen Kolonialismus, und die USA, die 1945 China vom genozidalen japanischen Imperialismus befreit haben. In Zeiten des aggressiven chinesischen und russischen Expansionismus und einer soziokulturellen Transformation europäischer Gesellschaften durch Einwanderungsmilieus mit noch offenem Ausgang täte „der Westen“ vielleicht gut daran, sich auf seine ganze Geschichte zu besinnen; die blinden Flecken dieser Geschichte aber sind schon lange nicht mehr die – unbestrittenen – europäischen Untaten, sondern die Momente seiner eigenen Größe und Bedrängnis wie eben Lepanto.
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