Irgendwo zwischen Lemberg und Kiew liegt eine unsichtbare Grenze, die Kulturgrenze zwischen Mitteleuropa und Osteuropa. Diesen Eindruck hatte ich bei meinem ersten Besuch in der Ukraine, im September 1988. Damals schien die Sowjetunion für ferne oder flüchtige Beobachter noch festgefügt und unbezwingbar. Trotz seiner prachtvollen Kirchen schien „die Heldenstadt“ Kiew (Kyiv) eine sowjetische Metropole, jedenfalls eine osteuropäische Stadt zu sein. Das westukrainische Lemberg (Lviv) dagegen ließ sich seinen habsburgischen Charme auch von den Kommunisten nie ganz austreiben. Seine gepflasterten Innenstadtstraßen und vielen Kirchen, die bunte Vielfalt seiner Architektur, die dem Menschenmaß angepassten Dimensionen von Straßen, Plätzen und Gebäuden atmeten selbst damals viel Mitteleuropäisches.
Welcher kulturbewusste Mitteleuropäer kennt ukrainischen Barock?
Meist reiste ich von Kiew nach Lemberg, selten umgekehrt: 1988 im Spätherbst der Sowjettyrannei, 1991 im Jahr der ukrainischen Unabhängigkeit, auch vor und nach der Maidan-Revolution. Im Februar nun, zum Jahrestag der russischen Invasion, fuhr ich in umgekehrter Richtung, von Lemberg über Iwano-Frankiwsk und den Marienwallfahrtsort Sarwanyzja nach Kiew. Trotz der langen Autofahrten, der Checkpoints, kriegsbedingten nächtlichen Ausgangssperren und Luftalarme in der Hauptstadt, schien mir Kiew näher an Mitteleuropa herangerückt. Vielleicht weil die Polizisten nichts Hoheitliches mehr ausstrahlen, weil die Gesellschaft im Überlebenskampf zusammenrückt, weil der Idealismus ausnahmsweise lauter ist als Kommerz und Korruption?
Anders als bei früheren Besuchen eile ich – im Korsett der Termine – an der schönen Sophienkathedrale vorbei. Im 11. Jahrhundert begonnen, wurde dieses Zeugnis abendländisch-christlicher Kultur mehrfach zerstört, doch wiederaufgebaut. Wie die ukrainische Eigenstaatlichkeit. Auch für das prachtvolle Michaelskloster mit seinen imposanten Goldkuppeln bleibt nur ein flüchtiger Blick. Die Kirchen und Klöster der Stadt beweisen in Baustil und Namensgebung die Zugehörigkeit der Ukraine zum christlichen – und überwiegend orthodoxen – Kulturraum.
Als wir das Höhlenkloster, die berühmteste Lawra des Landes, erreichen, liegen ihre goldglänzenden Kirchenkuppeln bereits in nachmittäglichem Nebel. Der riesige Klosterkomplex am Westufer des Dnepr (Dnipro) beheimatet viele Kirchen, Klöster, Mönchshöhlen und die Kiewer Theologische Akademie. Die Verkaufsstände mit allerlei frommem Kitsch sind fast verwaist. Nur wenige frierende Mönche und fromme orthodoxe Beterinnen eilen durch die Lawra. Vor der bereits verschlossenen Maria-Himmelfahrts-Kathedrale in der „Oberen Lawra“ lohnt sich selbst im kalten Nebel ein kurzes Innehalten. Etwa hier soll Mitte des 11. Jahrhunderts der Einsiedler Antonius (Antonij) mit dem Mönch Theodosius (Feodosij), dem späteren Vorsteher der Asketengemeinschaft, ein orthodoxes Kloster gegründet haben.
Sie werden wohl weniger gezankt haben als die Orthodoxen unserer Tage, sonst hätte ihre Gründung kaum eine solche Blüte und Beharrlichkeit entfaltet. Gerne wollen wir glauben, dass es die Muttergottes selbst war, die die Baumeister aus Konstantinopel herbeirief, um die Kathedrale ihrer Himmelfahrt zu errichten; auch wenn sich die Umbauten im 18. Jahrhundert irdischerer Inspiration verdanken. Welcher kulturbewusste Mitteleuropäer weiß schon, dass es auch einen ukrainischen Barock gibt? Die 1240 einfallenden Mongolen nahmen Kiew zwar seine ökonomische und politische Bedeutung, doch das Klosterleben in der Lawra vernichteten – trotz mancher Plünderungen – nicht einmal sie. Was die Mongolen nicht schafften, erledigte das 20. Jahrhundert: 1941 wurde die Kathedrale gesprengt; wir stehen also vor einer Rekonstruktion.
Mahnmal für kulturfeindlich totalitäre Ideologien
Nicht nur der Lawra haben Nazis und Sowjets, die Repräsentanten von zwei menschen- und darum kulturfeindlichen totalitären Ideologien im vorigen Jahrhundert schwer zugesetzt. Das ukrainische Volk ging einen viele Jahrzehnte währenden Kreuzweg, unter schweren Geißelschlägen von links und von rechts. Auf dem Rückweg vom Höhlenkloster zur U-Bahn-Station bleiben wir am Holodomor-Mahnmal stehen. Daran kann man nicht vorbeigehen – nicht einmal physisch.
Von hier aus sind die goldenen Kuppeln der Lawra noch zu sehen, und doch erinnert uns die Bronzestatue eines kleinen, hungernden Mädchens an eine andere Dimension ukrainischer Identität: Der kommunistische Tyrann Josef Stalin versuchte vor neun Jahrzehnten, der Ukraine das Rückgrat zu brechen. Millionen Menschen fielen der von ihm willkürlich, ja vorsätzlich ausgelösten Hungersnot zum Opfer. Nur wenige Meter dahinter ragt die Holodomor-Gedenkstätte wie eine überdimensionale Kerze gen Himmel, umrahmt von vier Kreuzen. Der Obelisk und die ewige Flamme, die an die Opfer des Zweiten Weltkriegs erinnern, ist in unmittelbarer Nachbarschaft dieses Mahnmals, das – nach Jahrzehnten einer sowjetisch angeordneten Damnatio memoriae – die Millionen Opfer stalinistischer Terrorherrschaft dem Vergessen entreißt.
Unterdessen ist es dunkel geworden, und ich denke an den Stalin-Bewunderer im Kreml, der seit mehr als einem Jahr Leid und Tod über die Ukraine bringt. Vielleicht, weil sie sich den Werten des Abendlandes mutig zugewandt und die Kulturgrenze zwischen Mittel- und Osteuropa weit nach Osten verschoben hat.
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