„Tagespost“-Interview

Ben Krischke: „Wokeness ist eine Ersatzreligion“

Alexander Marguier hat mit „Cicero“-Journalist Ben Krischke das Buch „Die Wokeness-Illusion“ (Verlag Herder) herausgegeben. Er sieht diese neue Kultur-Bewegung kritisch, erwartet aber auch eine woke Selbstabschaffung.
Illusion der Wokeness
Foto: Adobe Stock | „Wenn aber gefordert wird, ich müsse die Realitäten Anderer widerspruchslos als meine eigene Realität anerkennen, dann weigere ich mich. Ideologien scheitern früher oder später immer an den Realitäten.“

Der Kulturkampf ist wieder in aller Munde. Ursprünglich meinte man damit das Aufeinanderprallen konkurrierender Weltanschauungen: konservativ gegen liberal, Kirche gegen Staat. Wer ist denn heute liberal, Herr Krischke, die Woken oder ihre Gegner?

Die Gegner des Wokismus sind die Liberalen, weil ich innerhalb des Wokismus keinen Ansatz sehe, der in irgendeiner Form freiheitlich wäre oder Rücksicht nähme auf den Lebensentwurf anderer. Man fordert ein, andere müssten auf den eigenen Lebensentwurf Rücksicht nehmen, aber andersherum funktioniert es nicht. Das ist eine zutiefst autoritäre Bewegung, die unseren Alltag auf den Kopf stellen will mit Narrativen, die postfaktisch sind, wenn nicht gar reine Hirngespinste.

Im Vorwort des Sammelbandes warnt der Mitherausgeber Alexander Marguier vom „nachgerade religiösen Eifer“ der „Social Justice Warriors“, die wie „hysterische Hexenjäger“ ihre Ziele verfolgten. Ist Wokismus eine Ersatzreligion?

Absolut, Wokeness ist eine Ersatzreligion. Sie finden darin alle Facetten und Bilder, die in Religionen vorhanden sind. Es gibt die klaren Bösen, die klaren Guten, Gebote, die von einer höheren Macht gesprochen werden, an die sich alle zu halten haben. Wer das nicht tut, ist ein Häretiker und wird exkommuniziert. Vielleicht darf er zurück in die Gemeinschaft, wenn er seinen Gang nach Canossa beziehungsweise in den Prenzlauer Berg absolviert hat (lacht). Und es gibt sich für progressiv haltende Propheten, die in den Sozialen Medien einen großen Resonanzraum 
haben, obwohl sie wenig zu sagen haben. Wokismus proklamiert, besonders aufgeklärt und modern zu sein, aber bei näherer Betrachtung zieht sich der hysterische Eifer durch alles, was dort propagiert wird.

Regeln und Verbote verschonen auch TV und Film nicht. Netflix ist mustergültig für woke Produktionen. Wie erklären Sie sich diesen Siegeszug ins Wohnzimmer?

Überall, wo der Wokismus auf fruchtbaren Boden fällt, gibt es den tiefen Wunsch, zu den Guten zu gehören. Darauf reagieren auch die Anbieter. Ich würde aber differenzieren wollen bei der künstlerischen Gestaltung: Wenn eine künstlerische Instanz beschließt, dass es in der Verfilmung eines Fantasy-Buches schwarze Elfen gibt, obwohl die im Buch nicht vorkommen, ist das absolut legitim. Problematisch wird es, wenn es von oben politisch vorgeschrieben wird. Das ist ein massiver Eingriff in die künstlerische Freiheit. Da würde ich mir wünschen, dass Künstler konsequent dagegenhalten: Das Werk ist Sache des Kreativen, nicht einer sich selbst ermächtigenden politischen Instanz.

Lesen Sie auch:

Auch in Kunst und Literatur lässt sich die Wokisierung ausmachen. Die Hamburger Kunsthalle liefert zur Ausstellung „Femme Fatale“ sogar das passende Glossar. Inklusiv ist dieses Vokabular nicht. Stellt Wokeness eine Gefahr für die Demokratie dar?

Wokismus torpediert jedenfalls den demokratischen Aushandlungsprozess, weil er Menschen mit anderen Perspektiven nicht akzeptiert. Mit woker Sprache werden außerdem Menschen aus alltäglichen Beschäftigungen und von der Kultur ausgeschlossen. Das gilt auch für Menschen mit Migrationshintergrund übrigens. Es wird eine Clownssprache erfunden, der viele Menschen nicht folgen können. Mit eingebildeten Fantasiewelten verliert man die Menschen jedoch schnell. Die Crux ist, dass Woke sich einbilden, durch Sprachverhunzung etwas Gutes zu tun, etwas Inklusives, aber das Gegenteil ist der Fall.

Indem Leistung und der Traum vom Aufstieg diskreditiert werden, werden immer mehr Menschen in Unmündigkeit gehalten. Ist Wokeness ein repressives elitäres Machtinstrument?

Ja, das ist es, weil man Normalität leugnet, das Alltagsleben vieler Menschen ignoriert und vielen Chancen verbaut. Man verwehrt einer Person zum Beispiel einen Arbeitsplatz oder ein politisches Amt, weil sie nicht divers genug ist. Man berücksichtigt Kategorien, die mit der für einen Job nötigen Qualifikation nichts zu tun haben. Die Folge davon ist eine elitäre Kaste, in die es immer schwerer wird durch Fleiß und Kompetenz vorzudringen, aufgrund von ideologischen Hausordnungen, Abwehrreflexen und Sanktionen für vermeintliches Fehlverhalten.

Bei der neuen „Meldestelle für Antifeminismus“ können frauenfeindliche Vorfälle gemeldet werden. Sind wir auf dem Weg in eine denunziatorische Gesellschaft?

Da sind wir längst. Das ist die logische Folge dessen, wovor viele in den letzten Jahren die Augen verschlossen haben. Mit gesellschaftlichen Veränderungen verhält es sich nicht so, dass ich heute ins Bett gehe und morgen wache ich in einer autoritären Gesellschaft auf. Nein, man öffnet eine Schleuse, danach die nächste ... Die Meldestelle ist die logische Fortsetzung einer Entwicklung, die ganz klar zeigt, dass die persönliche Freiheit ohne jede gesetzliche Grundlage eingeschränkt werden soll. Sie stuft als antifeministisch ja bereits ein, wenn man Dinge, die vom linksgrünen Milieu als modern und alternativlos propagiert werden, kritisch hinterfragt.

Die Errungenschaften der aufgeklärten Gesellschaft und des Feminismus drohen zunichte gemacht zu werden, wenn eine französische postkoloniale Feministin schwarzen Frauen rät, aus Gemeinschaftssolidarität über eine Vergewaltigung zu schweigen, falls es sich um einen schwarzen Täter handelt. Wird die Täterherkunft über das Leid der Opfer gestellt?

In dem Fall ist das offensichtlich. Das 
ist ein sehr drastischer Fall, aber Tendenzen in diese Richtung gibt es auch in Deutschland. Feministische Errungenschaften werden fundamental angegriffen, wenn man einen „ethniebedingten Bonus“ vergibt oder Taten auf eine angeblich strukturell rassistische Gesellschaft schiebt, den Täter dadurch also zum Opfer macht Wenn jemand eine Frau vergewaltigt, dann ist er Täter. Alles andere ist 
absurd, menschen- und frauenverachtend.

An der Demontage des Begriffs „Frau“ wird seit Jahren gearbeitet. Stattdessen soll das Wort Flintas benutzt werden. Wer an der Zweigeschlechtlichkeit festhält, wird als Nazi oder transfeindlich beschimpft. Weshalb gibt es kaum Widerstand gegen woke Misogynie?

Den gibt es. Ich sehe glücklicherweise einen wachsenden Schulterschluss zwischen Leuten aus dem liberalen und konservativen Spektrum und Feministinnen, Schwulen und Lesben. 
In den Medien aber werden diese Widerstände und Allianzen insgesamt noch zu wenig thematisiert. Das hat mit der sehr homogenen Struktur der Medienbranche zu tun, den Milieus, aus denen viele Journalisten stammen. Bei jungen Generationen, die im Journalismus vor allem online tätig sind, kommt noch hinzu, dass ein Empfangsraum für absurde Ideen besteht. Das war schon immer so. Es werden einfache, leicht fassbare Narrative gestreut, die man erst einmal hinterfragen muss. Zum Beispiel das Selbstbestimmungsgesetz ...

Trumpft mit dem Selbstbestimmungsgesetz endgültig Gender über Geschlecht?

Ich bin erst einmal gespannt, in welcher Form die Bundesregierung das Gesetz durchzudrücken in der Lage ist. Es ist jedenfalls der Versuch, unsere Gesellschaft in ein postfaktisches Geschlechtersystem zu überführen, wonach künftig nur noch Gefühle darüber entscheiden sollen, welches Geschlecht man hat. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich gestehe jedem zu, dass er sich als das fühlen kann, was er möchte. Wenn aber gefordert wird, ich müsse die Realitäten Anderer widerspruchslos als meine eigene Realität anerkennen, dann weigere ich mich. Zu Ihrer Frage: Ich sage Nein, als der Optimist, der ich bin, weil es für diese kruden Ideen keine Akzeptanz in der Mehrheitsgesellschaft geben wird. Wenn ich heute zu meinem Nachbarn hochgehe und ihn nach meinem Geschlecht frage, dann sagt er: Du bist ein Mann. Und das ist auch gut so! Ideologien scheitern früher oder später immer an den Realitäten.

Bisweilen finden sich befremdliche Alliierte für die gesellschaftliche Neuordnung: Wokeness und politischer Islam vertragen sich erstaunlich gut. Wie konnte es zu dieser fatalen Allianz kommen?

Das verwundert nicht. Beide Milieus eint ein gemeinsames Feindbild: die freie und aufgeklärte Gesellschaft ohne Denk- und Sprechverbote. Außerdem spiegelt sich in diesem Schulterschluss der vom woken Milieu pervertierte Toleranzbegriff wider. Einerseits will man die westliche Welt gerechter machen, andererseits greift man nicht in patriarchale Strukturen migrantischer Milieus aus bestimmten Kulturkeisen ein, weil deren Autoritarismus als kulturelle Eigenheit, die es zu tolerieren gilt, fehlinterpretiert wird. Diese Toleranz, die auf der einen Seite besonders hochgehalten wird, gleicht man dann dadurch aus, dass man auf der anderen Seite besonders intolerant ist. So hält sich das dann auch irgendwie in einer geistigen Balance (lacht)
Viele Autoren machen Wokeness zum Geschäftsmodell.

Auch Unternehmen ziehen aus dem Erfolg der Wokeness Profit. Umweltsünder versuchen sich mit Green Washing und Woke Washing reinzuwaschen und sich ein opportunes Image zu verpassen. Wie kapitalistisch ist Wokeness?

Zumindest ist Wokeness dem Kapitalismus sehr anschlussfähig. Ich verstehe, dass sich opportunistische, manchmal auch schlicht feige Unternehmen einem vermeintlichen Zeitgeist anbiedern, um dadurch vielleicht höhere Profite zu erzielen und in Ruhe ihr Geschäft machen zu können. Ich glaube aber, dass sich die Wirtschaft damit keinen Gefallen tut. Zu viel Opportunismus rächt sich irgendwann.

Lesen Sie auch:

Kürzlich warnte Elon Musk vor woker KI: „Die Gefahr, KI darauf zu trainieren, woke zu sein also zu lügen ist tödlich.“ Eine kurze Plauderei mit ChatGPT genügt, um Musks Verdacht zu erhärten. Ist KI das ultimative woke Mittel?

Wir müssen hier wachsam sein, wie auch in anderen Bereichen. Wenn sich Menschen aber von einer KI die Welt erklären lassen, ohne das zu hinterfragen, dann ist offensichtlich nicht die KI das Problem, sondern der denkfaule Rezipient. Der denkfaule Konsum von Wikipedia ist ja bereits ein gutes Beispiel für woke Umtriebe. Wer da alles Rechtspopulist sein soll oder Verschwörungstheoretiker, ist schon erstaunlich. Und genug Leute glauben das auch noch.

Erste Anzeichen einer bröckelnden Wokeness gibt es. Vormalige Eiferer werden abtrünnig. Frisst die Revolution ihre Kinder? Wie schaut s aus mit der woken Zukunft?

Sie frisst sie permanent, weil die Regeln immer strikter werden im woken Milieu. Irgendwann werden nur noch drei woke Geister auf der Couch sitzen und sich sagen: So, jetzt lohnt sich s auch nicht mehr. Ich sehe, dass die gesellschaftliche Mitte gerade aufwacht und sagt: Wow! Da sind Dinge am Laufen, die wollen wir nicht akzeptieren! Wer Druck ausübt, erlebt auch Gegendruck. Und je mehr Widerstand das woke Milieu bekommt, desto mehr wird es sich radikalisieren. Und je mehr es sich radikalisiert, desto unattraktiver wird es. Wokeness schafft sich also selbst ab.


Die Wokeness-Illusion: Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet, von Alexander Marguier (Herausgeber), Ben Krischke (Herausgeber) Verlag Herder, 128 Seiten, gebunden, 16 Euro.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Ute Cohen Nationalsozialisten Verlagshäuser

Weitere Artikel

„Künstliche Intelligenz“ ist in etwa so intelligent, wie Holz eisern ist. Warum die Gefahren, die von KI ausgehen, dennoch nicht unterschätzt werden dürfen und der Deutsche Ethikrat mehr ...
06.04.2023, 17 Uhr
Stefan Rehder

Kirche

Wegen Überfüllung geschlossen: 16000 Pilger aus 28 Ländern wandern am kommenden Wochenende zu Fuß von Paris nach Chartres.
28.05.2023, 13 Uhr
Franziska Harter
In der 56. Folge des Katechismuspodcasts mit der Theologin Margarete Strauss geht es um die Frage, wie der Mensch mit der Vorsehung zusammenarbeitet.
27.05.2023, 14 Uhr
Meldung
„Das war die Vorsehung!“ Aber was genau ist das eigentlich? Dieser Frage widmet sich Theologin Margarete Strauss in der 55. Folge des Katechismuspodcasts.
26.05.2023, 14 Uhr
Meldung
In der 54. Folge des Katechismuspodcasts geht es mit Theologin Margarete Strauss um die Schöpfungstätigkeit Gottes.
25.05.2023, 18 Uhr
Meldung
Historisch, theologisch, spirituell: Welche Aspekte laut "Premio Ratzinger"-Preisträger Ludger Schwienhorst-Schönberger eine zeitgemäße Bibelwissenschaft auszeichnen. 
27.05.2023, 17 Uhr
Ludger Schwienhorst-Schönberger