Heute mal etwas Neues. Denn dass der Westen innerlich zerrissen ist, diskutieren wir seit Jahren, ja Jahrzehnten bis zum Abwinken. Rechts gegen links, Somewheres gegen Anywheres, Traditionalisten gegen Globalisten, Glauben gegen Materialismus – der Kampf ist zwar heute nicht minder dringend als vor 10 oder 50 Jahren, und welche Seite die "richtige" ist, scheint zumindest dem Verfasser dieser Zeilen eindeutig aber verlieren wir dabei nicht das Wesentliche aus den Augen, ja geben es manchmal sogar in dem Maße auf, indem wir es auf falsch verstandene Weise zu verteidigen suchen?
Oft genug schrieb ich bereits, dass der Hass auf die Dekonstruktion unserer Kultur zwar verständlich, sogar notwendig ist, aber zu kurz greift: Auch, wer das Negative ablehnt, bleibt in der Negativität, definiert sich über die Verneinung. Aus der Verdunkelung des Dunkels folgt noch lange kein Licht. Wo aber sehen wir bei der politischen Rechten eine echte, positive "Bejahung" jenseits unkritischer Selbst-Musealisierung? Sicher, hier und da bestehen zaghafte Ansätze zu einer echten Literatur (Mosebach), Musik (Pärt), Architektur (Krier), Philosophie (Hösle) oder Theologie (Sarah), welche die Tradition hesperialistisch bejahen, statt sie zu verneinen doch handelt es sich hierbei um einige wenige Ausnahmen, die sogar im eigenen Milieu kaum bekannt sind.
„Ebenso, wie die "Linkschristen" sich bemühen,
die Tradition im Namen eines progressistischen Ideals zu demontieren,
wollen die "Rechtschristen" sie im Namen der Tradition restituieren“
Doch schlimmer noch und hier nähern wir uns dem eigentlichen Gehalt unserer Überlegungen: Nicht nur scheinen die Konservativen den Kulturkampf verloren zu haben, bevor sie ihn überhaupt aufgenommen haben; sie haben auch, und das seit langer Zeit, ihre eigene Seele verloren, und zwar im wörtlichen Sinne. Denn der moderne Konservatismus ist mittlerweile genau so materialistisch geworden wie die moderne Linke.
Das mag auf den ersten Blick ungerecht, ja gar widersinnig klingen: Ist es nicht gerade der Konservative, der die Fahne von Transzendenz und Humanismus gegenüber Materialismus und Hedonismus hochhält? Das mag zwar stimmen (wenn auch leider viele sogenannte "Konservative" letztlich nichts anderes sind als Liberale der 1980er), aber doch meist nur formal. Denn jener Konservatismus ist oft genug hohl – auch bei jenen, die die Flamme des traditionellen Christentums hochhalten.
Oft geht es mehr um die äußere Form als um die Inhalte
Sicherlich: Der Verfasser dieser Zeilen wäre der letzte, der die Bedeutung des Ritus unterschätzt, und zwar nicht nur im Hinblick auf die patriotische Kontinuierung der Tradition, sondern auch als Möglichkeit, uns ganz konkret dem Wahren, Schönen und Guten anzunähern. Selbst ein rasch hingemurmeltes, geistig-emotional gar nicht durchdrungenes formelhaftes Gebet ist immer noch hundertmal besser als der Verzicht auf jene Riten im Namen falschverstandener "Innerlichkeit" oder "Spontaneität", denn Intention, Wort und Geste wirken auch als solche mit mächtiger Kraft nach außen wie nach innen und sind wichtige geistige Waffen.
Aber Waffen wofür? Es klingt hart, aber man kann sich dem Eindruck nicht entziehen, dass es vielen Rechten eher um den Kampf um die soziale Oberhoheit geht als um den um das eigene Innere. Ebenso, wie die "Linkschristen" sich bemühen, die Tradition im Namen eines progressistischen Ideals zu demontieren, wollen die "Rechtschristen" sie im Namen der Tradition restituieren. Nur: Diese Tradition wird weitgehend destruktiv und retrospektiv verstanden, ist im Inneren aber oft genug ebenso leer wie auf der anderen Seite der politisch-sozialen Front. Anders ausgedrückt: Es wird zwar ein "Raum" für das eigentlich Wesentliche geschaffen oder freigehalten, wo er anderswo bewusst und hasserfüllt zugeschüttet wird allein dadurch aber füllt er sich noch lange nicht automatisch mit Gehalt.
Klima oder Nation führen nicht zum Seelenheil
Was aber ist dieser fehlende Gehalt, jenes tiefinnerste Herz unserer Kultur? Es ist die unbedingte Suche des Einzelnen nach Annäherung an Gott, und zwar im radikalsten und individualistischsten Sinn, der sich denken lässt. Denn im Zentrum unserer Kultur steht weder der Aufbau linksgrüner sozialer oder klimatischer Gerechtigkeit, noch konservativer nationalstaatlicher Harmonie, sondern die Schaffung eines Rahmens, der die Erfüllung von Matthäus 16,26 ermöglicht: "Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber seine Seele verliert?" Und dieser Kampf um die eigene Seele kann nie als ganz "gewonnen" betrachtet werden er ist ein Prozess der ständigen Reinigung und somit auch der Annäherung an jenen Gott, der uns zwar nach seinem Bild geschaffen und somit mit einer unsterblichen Essenz versehen hat, die der seinen identisch ist, uns aber eben auch in die Begrenztheit der Materie gesetzt und somit zum beständigen Kampf gegen die damit einhergehenden Schwächen angehalten hat.
Die Befolgung der äußeren Gottesgesetze stellt dabei aber nur eine erste "conditio sine qua non" dar, eine bloße Basis, auf deren Grundlage erst das eigentliche Ziel, die zunehmende, wenn auch natürlich nie ganz zu verwirklichende Annäherung der eigenen Seele an die wesensgleiche Essenz des Schöpfers gelingen kann jene "unio mystica", der zuliebe Christen (und in Anbetracht der Allgegenwart und Überzeitlichkeit des "logos spermatikos" auch Buddhisten, Daoisten, Muslime oder Juden) seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden eremitische Einsamkeit oder klösterliche Abgeschiedenheit suchen, um sich ganz auf jenes Wesentliche zu konzentrieren, dessen Verfolgung auch denen, die im praktischen Leben stehen, höchstes Ziel sein sollte.
Das Wichtigste darf nicht übersehen werden: Annäherung an Gott
Die Erkenntnis, dass das innere seelische Ringen um Annäherung an Gott keineswegs weniger bedeutend ist als jenes äußere um "soziale Gerechtigkeit", ja dass es diesem streng genommen sogar metaphysisch weit überlegen ist, da wir durch unsere Seele einen Funken jener Unendlichkeit besitzen, der in sich ohnehin in Potenz die gesamte Welt birgt das ist eine Erkenntnis, die zu den tiefsten Einsichten des Menschen gehört, heute aber fast völlig verschüttet worden ist.
Ähnlich steht es um die Tatsache, dass nur aus jener schrittweisen Selbst- und Gotteserkenntnis die eigentliche Nächstenliebe fließen kann, nämlich die der Erkenntnis Gottes im Anderen, die meilenweit entfernt ist von dem leider auch in christlichen Kreisen verbreiteten sozialen Utopismus. Freilich: Ein solches Streben nach Selbstwerdung ist nie abgeschlossen und erfordert eigentlich das Opfer der ganzen "äußeren" Person, wie unzählige Heilige und Mystiker gezeigt haben, denn nur wer sich selbst ganz aufgibt, kann in sich Gott finden und durch ihn das im Höchsten enthaltene eigene Ich in transzendierter Weise wiederentdecken.
Ein gewaltiges metaphysische Schauspiel des inneren Ringens
Dies ist daher auch das eigentliche Herz der abendländischen Kultur (und nicht nur dieser), wie etwa im Mittelalter auch einem Großteil der Menschen bewusst war: Alter, Klasse, Volk, Intelligenz, Gesundheit sie alle sind letztlich nur Äußerlichkeiten, welche zwar wichtige Grundkategorien des Seins widerspiegeln, aber doch nur den Rahmen für das gewaltige metaphysische Schauspiel des inneren Ringens des Einzelnen um Gott bieten; oberflächliche Rollen, die die tatsächliche Würde des Individuums als seelischem Gottesabbild in keiner Weise tangieren.
Erst als der äußere über den inneren Menschen siegte, technischer Fortschritt über geistliche Selbstwerdung, Bildung über Gottesschau, der Buchstabe über den Geist der Bibel, wurde jener eigentliche innere Kern des Abendlands (und wohl jeder anderen menschlichen Kultur, wenn auch auf anderer morphologischer Grundlage) allmählich verschüttet, bis der hieraus entstandene Utopismus schließlich zu jener widergöttlichen Farce wurde, die uns heute allerorten entgegentritt.
Die Transzendenz ins Bewusstsein rücken
Der Kampf gegen multikulturalistischen Relativismus, Gender-Unsinn, Abtreibung, LGBTQ-Ideologie, Euthanasie, Transhumanismus, traditionsfeindlichen Globalismus: Er ist zwar wichtig und unverzichtbar, aber er bringt uns im unmittelbaren Hier und Jetzt dieser Suche nach eigentlicher spiritueller Selbstwerdung, nach Befreiung von weltlicher Schlacke, kaum einen Schritt näher. Sicher: Er schafft (oder schützt) einen Raum, in dem die Transzendenz erneut in das Bewusstsein der Menschen gerückt wird.
Den ersten Schritt von der bloßen Befolgung der Gesetze und somit vom sozialen Christentum zur stetigen Annäherung an die transzendente Dimension in unserem eigenen Inneren aber kann niemand für uns tun er muss aus unserem eigenen Selbst kommen. Unentwegt auf ihn hinzuweisen, ihn in Kunst und Kultur zu verarbeiten, konkrete Beispiele der aktiven Gottessuche zu geben das wäre die eigentliche, "positive" Aufgabe der Konservativen, der eigentliche Gegenentwurf gegen linksgrünen Materialismus und Hedonismus. Davon ist die Rechte aber in ganz Europa noch weit entfernt.
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