Höchstleistungen im Fußball gelten noch immer als Männersache. Nur sehr langsam richtet sich der männliche Blick anerkennend auf die Leistungen der Nationalmannschaft der Frauen. Dagegen war Theodoret von Cyrus (393-458) unserer Zeit weit voraus, als er ein Lob sportiver Frauen anstimmte. Diese Athletinnen Gottes hätten auf der Wettbahn „nicht weniger tapfer, vielleicht sogar tapferer gekämpft“ als die Männer. Die Sportlerinnen der besonderen Art trainierten nicht in der Öffentlichkeit der Arenen. Sie sammelten keine Fitnesspunkte in der Muckibude und machten bei Verspannungen keine Dehnungsübungen auf der Faszienrolle. Alle Goldmedaillen dieser Welt bedeuten ihnen nichts. Sie suchten die geheimnisvolle Krone des Lebens („corona vitae“). Doch auch sie stemmten Eisen und beugten viele hundert Mal die Knie.
Einsiedler ziehen die Menschen magisch an
Marana und Kyra hatten Wohlstand und Bildung eines vornehmen Geschlechtes genossen. Von Dienerinnen begleitet, wuchsen sie auf. Dann kamen die Tage des Überdrusses. Die Schwestern zogen aus, um an sich zu arbeiten und niemals wieder in die alten Muster zurückzufallen. Sie ließen einen Platz einfrieden und den Eingang mit Lehm und Steinen verschließen. Nun lebten sie bei Wind und Wetter, in glühender Hitze und eisiger Kälte unter freiem Himmel. Durch eine kleine Fensteröffnung wurden die Athletinnen mit spartanischer Nahrung versorgt.
Marana und Kyra waren Inklusinnen. „Inclusus“ bedeutet „eingeschlossen“. Die Inklusin hält nichts von Inklusion. Sie glaubt nicht, dass ein christliches Leben in der Welt möglich ist. Sie will mit Gott allein sein. Dagegen praktiziert die Kirche seit jeher das Modell der Inklusion. Ihre Türen sind geöffnet: Alle Menschen unabhängig von Stand und Bildung sind eingeladen. Die Tür zur Einsiedelei der Inklusin ist verschlossen. Die Athletin grenzt sich von der Masse des Kirchenvolkes durch eine elitäre Lebensform ab. Als Asketin verzichtet sie auf alles, was andere Menschen zum Leben brauchen: ausreichend Nahrung, saubere Kleidung, ein festes Dach über dem Kopf, Freundschaft, gepflegte Unterhaltung und Kultur.
Einsiedler ziehen die Menschen magisch an. Gerade in Zeiten der Krise, wenn das Wort hohl und der Geist erschlafft ist, richtet sich der Blick auf den Einzelnen. Der Einsiedler ist der Einzelne. Aber der Einsiedler bleibt nicht lange allein. Ratsuchende kommen und erwarten Heilung an Leib und Seele. Einmal im Jahr zu Pfingsten hielt Marana Sprechstunde hinter den Mauern ihrer Gottesburg. Kyra brach ihr Schweigen nie. Was die Besucher durch das kleine vergitterte Fenster sahen, erfüllte sie mit Ehrfurcht und Sprachlosigkeit. Die Frauen trugen an Hals, Hüften, Händen und Füßen schwere Eisenketten.
Von anderen Einsiedlern berichtet Theodoret in seiner „Mönchsgeschichte“, sie hätten viele Jahre auf hohen Säulen gestanden, nachts kein Auge zugedrückt, keine Nahrung zu sich genommen, hätten in Höhlen oder Zisternen gelebt. Wozu diese Anstrengung? Menschen stemmen noch immer Eisengewichte, halten strenge Diät, trainieren Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz. Doch niemand sucht im Fitness-Center die Begegnung mit Gott. In den geistlichen Übungen triumphiert die Seele über die Bedürfnisse des Körpers. Von einem Engelleben auf Erden spricht daher Theodoret. Als Bischof in stürmischer Zeit war auch er ein Athlet. Die Kirche hatte sich gespalten. Er versuchte die Abtrünnigen wieder zu integrieren. Das gelang ihm auch mit vielen Anhängern des Marcion, der von zwei Göttern sprach: Dem unvollkommenen Schöpfergott des Alten Testaments und dem Gott der Liebe des Neuen Testament. Deshalb verwarf Marcion Moses und die Propheten und wollte nur wenige Evangelien und Paulusbriefe gelten lassen. Theodoret aber kämpfte für die Einheit der Schrift und die Lehre von der Einheit Gottes als Schöpfer, Versöhner und Vollender.
Durch lange Übung gefestigt im Wesentlichen
Die Eisenketten, die Marana und Kyra mit sich herumschleppten, waren ihm auch ein Bild für die Last seines Bischofsamtes. Er hatte es nicht angestrebt und wäre lieber Mönch geblieben. Zum geistlichen Leben war er schon vor seiner Geburt bestimmt worden. Seine Mutter hatte sechzehn Jahre lang auf ihre erste und einzige Schwangerschaft gewartet. Schließlich suchte sie einen heiligen Mann auf, der sie einst von einem Augenleiden geheilt hatte, und bat um sein Gebet. Es wurde erhört. Deshalb erhielt ihr Sohn den Namen Theodoret („der von Gott Geschenkte“), und Gott gab sie ihr Kind zurück. Theodorets Biographien sind eine Geschichte der Gottesliebe. Sie zeigen Menschen mit spiritueller Substanz. Sie schwätzen nicht daher, salbadern nicht und suchen in Not geraten nicht nach Ausreden für ihre Unvollkommenkeit. Sie sind durch sehr lange Übung gefestigt im Wesentlichen. Das spüren die Menschen. So werden aus Einsiedlern, Zweisiedler und schließlich entsteht eine Gemeinschaft (Cönobiten) als Kirche in ihrer reinen Form.
Marana und Kyra lebten über zweiundvierzig Jahre unter freiem Himmel. Nur einmal verließen sie ihre Inkluse. Sie pilgerten zum Grab der Heiligen Thekla in Isaurien, „um den Brand der göttlichen Liebe von allen Enden her anzuzünden.“ Wo ist diese Kirche der brennenden Herzen? Ihr Feuer lodert noch immer – aber im Verborgenen. Die Einsiedelei unter freiem Himmel ist für Marana und Kyra wie der verschlossene Garten im Hohenlied der Liebe. Hier warten sie auf die Begegnung mit dem himmlischen Bräutigam. „Denn da sie die Schönheit des Bräutigams vor Augen haben, ertragen sie gar bereitwillig und leicht die Anstrengung des Wettlaufes und beeilen sich, an das Kampfziel zu kommen, wo sie den Geliebten stehen sehen, der ihnen den Siegeskranz reicht.“
Einsiedeleien können überall errichtet werden. Es bedarf dazu nicht der ägyptischen oder syrischen Wüste. Ernst Jünger bereitete sich bei glühender Hitze im Treibhaus seines Vaters auf seine Flucht nach Afrika vor. Jahrhunderte zuvor hatte Domnina eine winzige Hütte aus Hirsehalmen im Garten ihrer Mutter errichtet. Bald strömten ihr die Ratsuchenden zu. Theodoret spricht von sehr vielen „Kampfplätzen der Frömmigkeit“ überall in der Ökumene. Hier herrsche die vollständige Emanzipation. Christus unterscheidet nicht die Geschlechter. Die Genderfrage ist im Glauben überwunden. Was allein zählt, ist die Kompetenz. Ob Sportler oder Schauspieler, ob Konstrukteur oder Kapitän, ob Arzt, Bauer oder Handwerker: „Eine kleine Probe reicht hin, die Kunst der Kundigen zu erweisen und die Ungeschicklichkeit derer darzutun, welche nur den Namen tragen.“ So trennt sich die Spreu der Geschwätzigkeit vom Weizen echter Gotteserfahrung. Wo sind die Zeiten geblieben, da die Wüste blühte?
Momente der Umkehr zum Wesentlichen
Theodoret beschrieb mit den Tiefenerfahrungen der Seele „Kriege und Kämpfe, die man nicht sehen kann“. Aus ihnen lebt und erneuert sich das Christentum. Seit dem frühen Mittelalter wurden Inklusorien an den Außenwänden von Kirchen errichtet. Das Leben in der Abgeschiedenheit hatte nicht mehr die Radikalität der frühchristlichen Askese. Die adelige Inklusin Jutta von Sponheim (1092-1136) trug keine schwere Eisenketten, wohl aber einen Bußgürtel um die Hüften. Auch ihre berühmteste Schülerin hielt sie zu dieser Übung an. Hildegard von Bingen war ein Gott geweihtes Kind und visionär begabt. So schaute sie in der Abgeschiedenheit die ganze Herrlichkeit der Schöpfung von Himmel und Erde.
Die berühmteste Inklusin der Weltliteratur schildert Wolfram von Eschenbach in seinem „Parzival“. Es ist Sigune, die durch Übereifer am Tod des Ritters Schionatulander schuldig wurde und in völliger Abgeschiedenheit ein Büßerleben als Inklusin führt. Ihre Klause wurde über einem Bach errichtet. Hier praktiziert sie ein asketisches Gebetsleben am Grab des jungfräulichen Ritters und ernährt sich ausschließlich vom Leib des Herrn. Einmal in der Woche wird er der Inklusin von der Gralsbotin Kundrie gebracht. Selbst untröstlich, spendet sie Parzival durch ein Gespräch am Fenster Trost. Die Einsiedelei wird zum Beichtstuhl. Hier ist der Ort zum Niederknien. Auf Momente der Umkehr zum Wesentlichen kommt es Theodoret an. Viele Menschen haben aus reiner Neugier die Kampfplätze der großen Einzelnen aufgesucht und kamen verwandelt zurück: „Man kommt, um zu schauen, und geht fort mit dem göttlichen Worte im Herzen.“
Die Beichtstühle in unseren Kirchen waren eine Inkluse auf Zeit. Orte der Wandlung, wo die schweren Eisenketten der Irrungen und Wirrungen des Lebens abgelegt werden konnten. Was ist aus den Beichtstühlen in unseren Kirchen geworden? Viele dienen als Abstellkammer für Wischeimer und Staubsauger. Ein munterer Bach mit frischem Wasser aus der Quelle des Lebens wird sie einst hinwegspülen.
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