Der Glaube ist eine späte Errungenschaft des menschlichen Geistes. Oft stellt man sich ihn als frühe, unentwickelte Form der geistigen Welt vor und vergleicht ihn zu seinem Nachteil mit dem Wissen, vor allem dem der modernen Wissenschaft. Aber in der Frühe des Bewusstseins gab es den eigentlichen „Glauben“ so wenig wie seinen Gegenspieler, den Zweifel.
Für das antike Judentum war der Glaube als mentale Haltung noch nicht das Entscheidende der religiösen Lebenspraxis; er verstand sich von selbst. Eher wirkte die Religion in einer geteilten Sittlichkeit, in der Befolgung der Gebote. Adam hatte keinen „Glauben“ in unserem Sinn, da er ja mit Gott sprach. Und Abraham tat, als er aus seiner Heimat fortzog, „wie ihm der Herr befohlen hatte“ (Gen 12, 4). Auch hat er die grandiose Vision seiner Nachkommenschaft (Gen 15, 1). Der Bericht zeigt einen zweifelnden Patriarchen im Dialog mit dem Herrn: Gott verspricht ihm Kindeskinder, so reichhaltig wie der bestirnte Himmel. „Er glaubte dem Herrn, und der rechnete es ihm zur Gerechtigkeit an.“ (Gen 15, 6) Hier hören wir zum ersten Mal vom Glauben. Er ist der Gegenspieler der bloß naheliegenden und jedem ohne Anstrengung einleuchtenden Wahrscheinlichkeiten.
Glaube ist Praxis, nicht Geisteseinstellung
Andernorts lesen wir von der Gottesfurcht. Die ägyptischen Hebammen, die das Knäblein Moses gegen den Befehl des Pharaos retten, sind gottesfürchtig (Ex 1, 17). Dabei wird aber der Glaube nicht eigens behandelt. Gottesfürchtig „ist man“ und wird dafür im Diesseits belohnt. Auch die Psalmen messen die Frömmigkeit nicht primär an einem Glauben als Bewusstseinsakt. Vielmehr: „Selig der Mann, / der nicht folgt dem Rate der Bösen, der nicht auf dem Weg der Sünder geht, / noch sitzt in der Runde der Spötter.“ (Psalm 1, 1) Der Prophet Jesaja tadelt den Abfall von Gott. Auch hier keine Rede vom Glauben als einer Geisteseinstellung, vielmehr von der Praxis: „Hört auf, Böses zu tun! Lernt, Gutes zu tun, / und trachtet nach Gerechtigkeit!“ (Jesaja 1, 16–17)
Hiob scheint zunächst in diese Gruppe zu gehören: „Er war untadelig und rechtschaffen, fürchtete Gott und mied das Böse.“ (Ijob 1, 1) Aber die bisher selbstverständliche Fortsetzung, dass solche Haltung noch bei Lebzeiten des gerechten Akteurs belohnt wird, sehen wir zum ersten Mal aufgekündigt. Eine Krise in der Idee der Gottesfurcht hat sich aufgetan. Gottes Ratschlüsse sind nicht von der Art, dass sie unbedingt und sofort einleuchten müssen. Das Buch Hiob wird auf die Zeit zwischen 500 und 100 v. Chr. datiert, allerdings hatte es gewichtige Vorläufer im Zweistromland.
Die nahe Beziehung von Gottesfurcht und sichtbarer Belohnung durch göttliches Wohlwollen muss aufgelöst sein, um den Glauben zu ermöglichen. Dem ungläubigen Thomas sagt der auferstandene Jesus: „Selig, die nicht sehen und doch glauben.“ (Johannes 20, 29) Der Glaube setzt also ein gekräftigtes Bewusstsein voraus. Eines, das sich Einsichten zutraut, auch wenn sie sich nicht sofort und nicht unbedingt in der sichtbaren Welt bestätigen. Im Glauben erkennt das Bewusstsein etwas von seiner eigenen Würde.
Der Autor lebt als Soziologe und Publizist in Frankfurt.
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