Am 4. September 2025 jährte sich der Todestag Albert Schweitzers zum sechzigsten Mal. Und doch gehört er nicht der Vergangenheit an. Schweitzer bleibt gegenwärtig – als lebendiges Maß, als moralischer Kompass, als Stimme eines Gewissens, das uns an das erinnert, was wir im Taumel der Zeit zu verlieren drohen: die Ehrfurcht vor dem Leben. In einer Welt, die an Lärm, Beschleunigung und Selbstvergessenheit leidet, klingt seine Stimme wie eine Orgel aus einer anderen Sphäre – voll innerer Klarheit, getragen von der ruhigen Kraft des Glaubens.
Sie ruft nicht zur Belehrung, sondern zur Wandlung. Humanität, so lehrte Schweitzer, ist kein ornamentaler Zusatz des Lebens, sondern dessen eigentliche Mitte. 1875 in Kaysersberg im Elsass geboren, verband er Geist, Glaube und Tat zu einer seltenen Einheit. Er studierte Theologie und Philosophie in Straßburg, promovierte über Kant, habilitierte über das Neue Testament, wurde Dozent – und blieb doch kein Gelehrter im Elfenbeinturm. Als Vikar an der Nikolaikirche griff er in seiner Predigt vom 23. Februar 1919 den Römerbrief auf: „Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber … wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn“ (Röm 14, 7–8).
Verantwortung ist tätige Form des Glaubens
In diesen Worten fand er das Urmotiv seiner Ethik: Der Mensch ist nicht Mittelpunkt, sondern Teil eines größeren Ganzen. Aus dieser Erkenntnis wuchs die Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“. „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“: Dieser Satz wurde zu seinem Credo. Alles Leben ist Nächster, jede Verletzung des Lebendigen Schuld, jede Bewahrung Gnade. Verantwortung, so verstand er, ist die tätige Form des Glaubens. 1913 gründete Schweitzer in Lambaréné ein Spital – ein Ort des Trostes inmitten der Not. Medizin war ihm nicht nur Heilkunst, sondern gelebte Moral, Barmherzigkeit in Handlung verwandelt. Zugleich erkannte er die Tragik des Daseins: dass jedes Leben auf Kosten anderen Lebens geschieht.
Neben Arzt und Theologe war Schweitzer Musiker. In Johann Sebastian Bach sah er den „fünften Evangelisten“, in dessen Fugen und Choralstrukturen eine göttliche Ordnung, die der Welt abhandengekommen war. Musik wurde ihm Offenbarung des Geistigen, Ethik und Klang, Handeln und Hören, Vernunft und Schönheit eine unauflösliche Einheit. Dem Nationalsozialismus begegnete er mit stiller Entschiedenheit. Jede Entwürdigung des Menschen war ihm Gotteslästerung. Humanität war für ihn keine Theorie, sondern tätige Solidarität. Die Erfahrung zweier Weltkriege, die Drohung des Atomzeitalters und die Verführung des Hasses prägten sein Denken.
Die Welt durch Mitgefühl retten
1952 erhielt er den Friedensnobelpreis, 1954 mahnte er zur Überwindung der Gewalt. Seine Botschaft blieb die gleiche: Die Welt kann nur durch Mitgefühl gerettet werden. Auch heute ist Schweitzers Denken von erstaunlicher Gegenwart. Ökologisch mahnt es zur Ehrfurcht vor der Schöpfung, politisch zur Mäßigung, geistig zur Verantwortung. Menschsein heißt: Hüterschaft statt Herrschaft, Mitleid statt Macht. Und so bleibt seine Stimme – wie ein Orgelton im Sturm der Welt – tief, hell und unbeirrbar. Sie ruft uns zurück zu dem, was uns trägt: zur Ehrfurcht vor dem Leben.
Der Autor leitet die Pressestelle des Bistums Regensburg.
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