Falsch verstandener Universalismus

In gesellschaftlichen Debatten nehmen Ausgrenzungen zu – Das Argumentationsschema ist immer gleich. Von Alexander Riebel
Juergen Habermas
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Die Diskussionen über Ausgrenzungen in Deutschland häufen sich. Sei es die Frage, ob Katholikentage die AfD als Gesprächspartner einladen, oder ob die Gedanken eines Schriftstellers wie Uwe Tellkamp AfD-nah seien und er damit distanziert werden muss wie durch den Suhrkamp Verlag oder ob die Bundeskanzlerin am Mittwoch nach ihrer Wiederwahl bekundete, die AfD „möglichst aus dem Bundestag wieder herauszubekommen“ – immer wieder geht es um Ausgrenzung einer demokratisch gewählten Partei. Gleichermaßen aber auch um die Ausgrenzung von Intellektuellen, die teils jahrzehntelang anerkannt wurden, die aber jetzt dem Mainstream widersprechen. Diese Ausgrenzung hat vor Tellkamp schon andere getroffen, wie Botho Strauß, Martin Walser, Rüdiger Safranski oder zuletzt Monika Maron. Pathologisierung, Pegida-Nähe oder Altersdiskriminierung waren die üblichen Mittel der linksliberalen Medien gegen solche Diskutanten. Diskutiert werden muss, wenn man es nicht bloß bei politischen Machtansprüchen belassen will, nicht nur darüber, was eine Gesellschaft will. Auf philosophischer Ebene sind auch die Prinzipien der Verständigung über diesen Willen Thema.

Darf es keine Diskussionen mehr jenseits von Mitte-Links geben? Wie sieht das Phänomen der Ausgrenzung aus der Sicht der Philosophie aus? Entpolitisierung ist das Stichwort, das Hannah Arendt in einem Aufsatz des neuen Suhrkamp-Bands „Freiheit“ ins Feld führt. Entpolitisierung vernichte das „politische Freiheitselement in allen Tätigkeiten“. Diese Entpolitisierung findet dann statt, wenn despotisch nur noch eine politische Meinung als gültig belassen werde. Das wird erreicht durch einen weitgehend einheitlich-verurteilenden Duktus der Medien, auch der sozialen. Das einzige, was nach Arendt hiergegen hilft und worauf schon Montesquieu hingewiesen habe, sei das eigene Nachdenken, das die allseitig nicht in Frage gestellten „Wirklichkeiten“ bedenkt: Das ist nur die „schiere Tätigkeit des Räsonnierens selbst, aus der Freiheit entsteht, das Räsonnieren schafft einen Raum zwischen den Menschen, in dem Freiheit wirklich ist“ entgegen jeglichem Mainstream, schreibt Arendt.

Offenbar ist das, wogegen sich Arendt mit dem angesprochenen Nachdenken wendet, die abstrakte Norm einer Haltung, die nur noch sich selbst bejaht. Ganz deutlich wird das bei Jürgen Habermas in seinem Buch „Die Einbeziehung des Anderen“. Habermas erörtert hier unter anderem die Frage, wie der Andere in die eigene Kultur einbezogen werden muss am Beispiel von Flüchtlingen. Dabei zeigen sich zunächst „auf der Abstraktionsebene philosophischer Überlegungen“ zwei Stufen der Assimilation: erstens die „Zustimmung zu den Prinzipien der Verfassung“ und zweitens die „Bereitschaft zur Akkulturation“ mit der Bereitwilligkeit der Immigranten „zur Einübung in die Lebensweise, in die Praktiken und Gewohnheiten der einheimischen Kultur auf ganzer Breite“, also eine „ethisch-kulturelle Integration“. Der „demokratische Rechtsstaat“ darf nach Habermas nur die erste Möglichkeit, die auf „politische Sozialisation beschränkte Assimilationserwartung“ verwirklichen. Die ethisch-kulturelle Integration wäre für ihn „Germanisierung“ nach dem Beispiel des Bismarck-Reichs. Wenn also nur die Norm der Achtung vor der Verfassung gilt, muss natürlich gefragt werden, was in diesem Zusammenhang noch die Begriffe Assimilation und Integration bedeuten sollen. Diese Begriffe sind hier irreführend, denn es gibt keine Integration unter ein Gesetz – dieses kann nur befolgt werden oder auch nicht. Der Habermas'sche Verfassungspatriotismus ist austauschbar und kann in jedem Land gleichermaßen stattfinden; er beschreibt nur die Minimalanforderungen rechtlichen Verhaltens, auch wenn dies, wie sich in den letzten Jahren der Flüchtlingskrise gezeigt hat, schon viel verlangt ist.

Habermas nimmt in Kauf, dass die „rechtsstaatliche Alternative“ Folgen hat für diejenigen, die immer schon da gelebt haben, wie Merkel formuliert. Die bloße universelle Normativität des Gesetzesdenkens kann sich nämlich nicht selbst schützen und ist der Willkür der Ereignisse ausgeliefert. Habermas macht völlig klar, „dass die legitimerweise behauptete Identität des Gemeinwesens in der Folge von Immigrationswellen keineswegs auf Dauer vor Veränderungen bewahrt werden werden“.

Wie kann aber etwas Legitimes willentlich beiseite geschoben werden? Habermas meint nun weiter, dass sich der Horizont der etablierten Lebensform durch fortgeschrittene Einwanderung erweitert und zu einer „Preisgabe ihrer eigenen Tradition genötigt werden dürfe“. Die endgültige Folge ist: „Dann greift nämlich jener Mechanismus ein, demzufolge sich mit einer veränderten kulturellen Zusammensetzung der aktiven Staatsbürgerschaft auch der Kontext verändert, auf den sich das ethisch-politische Selbstverständnis der Nation im ganzen bezieht.“ (S. 268) Die „Einbeziehung des Anderen“ geht also so weit bei Habermas, dass das gesamte ethisch-politische Selbstverständnis eines Landes umgemodelt werden dürfte, wobei natürlich auch die bisherige Rechtssituation nicht mehr gesichert wäre. Denn es spricht nichts dafür, dass der demokratische Rechtsstaat, von dem Habermas ausgeht, unter diesen Prämissen erhalten bleibt. Parallelrecht gibt es in Deutschland schon jetzt wie bei der islamisch fundierten Vielehe. Und weil das Recht zumeist nur Anschlussprobleme an die Wirklichkeit begründet, ist noch weiteres zu erwarten. Bei Habermas wird also aus der Einbeziehung des Anderen die Übernahme durch den Anderen – oder passiv formuliert: „Unterwerfung“ nennt das der Schriftsteller Michel Houellebecq. Und genau darüber muss diskutiert werden dürfen. Denn warum soll es den Primat des Anderen vor dem Eigenen geben – Habermas begründet diesen Primat nicht, weil er sich nicht begründen lässt –, stattdessen wird hier eine Variante der kulturellen Identitätstheorie vertreten, nämlich der Vorrang der Identität des Anderen vor der Identität des Eigenen. Habermas' Diskursethik als Thema seiner Theorie des kommunikativen Handelns fordert zwar den fortgesetzten Dialog, was Habermas aber in dem hier angesprochenen Zusammenhang allerdings nicht einlöst, weil er ein bestimmtes Modell von universellen Normen bevorzugt, das jedoch hinterfragt werden muss. Universelle Normen lassen sich nämlich auf verschiedene Art konzipieren.

Es ist kein Geheimnis, dass Habermas den Grundlinien von Kants Transzendentalphilosophie folgt und dabei das logische Apriori für das Denken und Handeln zu einem Kommunikationsapriori umgewandelt hat, also in die Bedingungen, die einen vernünftigen Dialog konstituieren. Geblieben ist aber von Kant der normativ-funktionalistische Charakter der Prinzipien, die schon bei Kant unangesehen des Inhalts gelten sollen. Angewandt auf Habermas: Wenn die Prinzipien des Rechtsstaates und der Ethik durch fortgesetzte Immigration relativiert und dann eventuell außer Kraft gesetzt werden, ist dies eben Pech für die Ursprungsgesellschaft. Diese Denkweise ist aber nur durch ein bestimmtes Verständnis von Normativität möglich, das nicht selbstverständlich und nicht das einzig denkbare ist. Es gibt auch ein Verständnis der Normativität von Prinzipien, die nicht unangesehen dessen gelten, worauf sie sich beziehen und die damit die gesellschaftliche Realität in Rechnung stellen. Diesen Theorietyp hat in der Philosophie Hegel vertreten.

Bei Hegel ist es die „Sittlichkeit“ als Lebensform, die die Kant'sche Getrenntheit von Prinzipien oder Gesetzen und gelebter Realität vereinigt. Ob eine Gesellschaft diese Form der Sittlichkeit erreicht, also das moralische und rechtliche Handeln aus Natur, hängt ganz vom Bildungsprozess und der Zusammensetzung dieser Gesellschaft ab. Hegels Rechtsphilosophie führt denn auch das Wort „Naturrecht“ im Untertitel. Die Sittlichkeit ist bei Hegel „die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewusstsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit“ zum Zweck hat. In diesem Verständnis von gelebter Sittlichkeit ist das Recht Gewohnheit geworden, gegen das nicht aus Gründen der Subjektivität oder gar Triebhaftigkeit verstoßen wird. Bei Kant und seinen späteren Nachfolgern gibt es die verhängnisvolle Trennung zwischen dem Einzelnen und der Lebensform. Bei Hegel dagegen ist es der „Raum des öffentlichen Lebens, in dem der Einzelne in der Tätigkeit für das Gemeinwohl seine Beschränkung aufs Private überschreiten kann“, was ebenfalls durch universell gültige Prinzipien begründet ist, die aber ihre Gültigkeit im Aufbau des Gemeinwesens erweisen, im Unterschied zu Kant.

Offenbar ist aber die Gesellschaft, wie sie sich öffentlich und medial präsentiert, noch weit entfernt, sich vom Formalismus eines Kant oder Habermas im Hinblick auf die Debattenkultur verabschiedet zu haben. Ohne die Bedingungen solcher Mechanismen im Blick zu haben, werden Positionen weiter unter dem Mantel angeblicher Universalität ausgegrenzt, die den Primat des Anderen in Frage stellen.

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