Würzburg

Exercitium: Mal wieder eine Kulturrevolution

In Dostojewskis Roman "Der Idiot" findet man menschliche Typen, die auch heutzutage ziemlich aktuell sind.
Fjodor M. Dostojewski
Foto: Oliver Killig (dpa-Zentralbild) | Ein prophetischer Schriftsteller: Fjodor Michailowitsch Dostojewski beschrieb in seinem Roman "Der Idiot" ein Phänomen, das immer wieder kehrt. Das Bild zeigt eine Statue Dostojewskis in Dresden.

Ein junger Mann, Fürst Lew Nikolájewitsch Myschkin, hatte sich für eine ärztliche Behandlung mehrere Jahre in der Schweiz aufgehalten und kehrt nun nach Petersburg zurück. Unmittelbare Verwandte hat er nicht mehr, und so gerät er in einen zusammengewürfelten Kreis, in dem sich die russischen Menschen der Zeit um 1870 darstellen und zugleich den Charakter ihrer Epoche offenbaren. Dies ist der Ausgangspunkt von Fjodor Dostojewskis Roman „Der Idiot“. Dem Fürsten Myschkin muss man die neue Lage erklären, die sich inzwischen herausgebildet hat, das übernimmt der Gymnasiast Kolja: „Und ist es Ihnen nicht aufgefallen, Fürst, dass in unserer Zeit alle Abenteurer sind? Und namentlich noch bei uns in Russland, in unserem lieben Vaterlande. Woher das nur alles kommen mag – wirklich, ich begreife es nicht. Man sollte meinen, dass alles unerschütterlich fest stand – aber jetzt? Darüber redet und schreibt jetzt alle Welt. Bei uns wollen alle ,alles entlarven‘! Und die Eltern sind die ersten, die sich ihrer früheren ,alten Moral‘ schämen.“

„Die Parole, es gelte nun, alles zu entlarven,
ist seit Dostojewskis hellsichtigem Buch alle paar Jahrzehnte
mit neuer Vehemenz wieder aufgetaucht“

Die Zeit einer kulturellen Revolution ist gekommen. Die Parole, es gelte nun, alles zu entlarven, ist seit Dostojewskis hellsichtigem Buch alle paar Jahrzehnte mit neuer Vehemenz wieder aufgetaucht. Und mit ihr ein menschlicher Typus, der sie trägt und verbreitet. Dieser Typus will glauben machen, dass es ihm um Gerechtigkeit gehe. Aber dafür ist er in seinem Auftreten etwas zu erpresserisch. Betrachten wir einen von diesen jungen Männern, wie er Myschkin gegenübertritt: „Der Blick war, wenn man sich so ausdrücken kann, unschuldig-frech. (…) In seinem Gesicht lag aber keine Spur von Ironie, ja nicht einmal der geringste Reflex eines Denkens, sondern nur ein stumpfes Berauschtsein von seinem ,Recht‘ und gleichzeitig ein seltsames Etwas, das schon zu einem ewigen Bedürfnis geworden war, beständig beleidigt zu sein oder sich beleidigt zu fühlen. Er sprach aufgeregt und schnell, blieb jedoch nach jeden drei Worten im Satz stecken, als wäre ihm das Stottern angeboren oder als wäre er ein Ausländer, obgleich er rein russischer Herkunft war.“

Große Löschungsprozesse im kollektiven Gedächtnis

Man muss nur die Abendnachrichten einschalten, oder sich auf YouTube ein paar aktuelle Videos anschauen, und man erkennt die Brüder und Schwestern dieses ersten großen Immer-schon-Beleidigten der Weltliteratur. Hellsichtiger Dostojewski! Der noch jüngere Ippolít ist der intellektuell versiertere Sprecher dieser Gruppe, „mit einem klugen Gesicht, das aber stets einen Ausdruck von Gereiztheit hatte“. Als er das Wort ergreift, ist Myschkin überrascht von der „ganz unerwartet kreischenden Stimme“. Mir scheint, wir alle waren ein wenig zu lange in der Schweiz zur Erholung und merken nun mit Schrecken, wie schnell sich die Welt in einer Kulturrevolution verändert. Sie kommt auch nicht von der Jugend allein, deshalb lässt Dostojewski den unbefangenen Kolja sagen, die Eltern seien die ersten, die sich ihrer früheren „alten Moral“ schämten. Solche Bewegungen kennen immer die halben Überläufer aus dem alten System, Kompromissler wie Georges Danton in der großen französischen und Alexander Kerenski in der russischen Revolution, die dann bald ihrerseits zu Opfern einer immer irrsinnigeren Beschleunigung werden. Kulturrevolutionen kann man als große Löschungsprozesse im kollektiven Gedächtnis betrachten. Sie müssen einsetzen, wenn die zivileren Umerziehungen nicht recht greifen. Am Ende solcher Löschungen wartet nicht die Freiheit, sondern das neue Ultimatum: Du brauchst keinen „Kanon“ einer oder deiner Kultur, du brauchst nur einen Arbeitsvertrag.

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Lorenz Jäger

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