Am 15. Januar 1959 sprach der französische Premier Michel Debré in der Nationalversammlung von: „l’Europe des patries et de la liberté“ (Europa der Vaterländer und der Freiheit), wenig später verband Charles de Gaulles mit dem Europa der Vaterländer die Vorstellung der Zusammenarbeit eines Kerneuropas bei Wahrung der nationalen Souveränität der einzelnen Staaten, um die europäische Teilung zu überwinden. Diese Vorstellung ging nicht von der Vereinigung der europäischen Länder in einem europäischen Zentralstaat aus, wie es zumindest von Deutschland aus gewollt wird. Dass andere europäische Staaten die Aufgabe nationaler Souveränität genauso innig wünschen wie die Deutschen, darf bezweifelt werden.
Die hohe Skepsis gegenüber dem Nationalstaat, gar den Wunsch, ihn als historisches Verhängnis zu überwinden, kennen nur Deutschland und Luxemburg. Allerdings geht vom Euro ein Vereinigungszwang aus, weil keine staatenlose Währung zu existieren vermag. Eine Währung benötigt einen weitgehend homogenen Wirtschafts- und Sozialraum mit klar definierten Hoheitsrechten, den man nicht Staat nennen muss, der aber ein Staat sein würde. Genau hier entstehen die sich verschärfenden Konflikte innerhalb der Euro-Zone und letztlich auch der EU, abstrakt formuliert, in den Prozessen der Homogenisierung des Euro-Raumes und der Abgabe nationaler Kompetenzen an die EU-Kommission. Tiefe Konflikte innerhalb der Euro-Zone, aber auch der EU werden in immer größerer Zahl aufbrechen, mit der Folge, dass nationale und europäische Elemente in Widerspruch zueinander geraten, wo sie doch einander bedingen sollten. Mit anderen Worten: Europas Stärke liegt in seiner Vielfalt, in seiner Heterogenität, in seinem Wettbewerb untereinander und in der kulturellen Diversität, in seinem sprichwörtlichen Pluralismus.
Niemand kann ernstlich daran zweifeln, dass die Staaten Europas zusammenarbeiten müssen und es auf der Grundlage gemeinsamer Werte, die aus dem Christentum und aus der Aufklärung, die ihrerseits aus dem Christentum hervorging, auch können. Die Frage lautet, wie diese Kooperation aussehen und auf welchen Gebieten sie stattfinden soll und sie lässt sich nur beantworten, wenn man einen Blick auf den Nationalstaat wirft und sich von der phantasievollen Konstruktion „postnationaler Staaten“ befreit.
In Deutschland – und nur in Deutschland – wird man schnell zur Zielscheibe von Verleumdungen und Beleidigungen, wenn man eine einfache Wahrheit, eine rationale Selbstverständlichkeit ausspricht, nämlich, dass die Existenz des Nationalstaates im sozialen und kulturellen Interesse der meisten Bürger, vor allem der Familien steht. Natürlich existieren Nationalstaaten, die keine Sozialstaaten sind, doch gibt es keine Sozialstaaten, die nicht zugleich Nationalstaaten wären. Milton Friedmans Diktum, wonach man offene Grenzen und einen Sozialstaat haben kann, nur eben nicht beides zugleich, ist zutiefst wahr.
So gesehen wäre der Nationalstaat eigentlich ein ur-linkes Projekt, wenn die SPD und die Linken nicht die soziale Frage gründlich vergessen hätten. Die meisten Bürger, die Familien benötigen eine funktionierende Infrastruktur, ordentliche Schulen, eine gute Bildung, innere Sicherheit, ein effektives Gesundheitssystem, ein Sozialsystem, das Not lindert und die Möglichkeit bietet, sich aus Notlagen auch wieder befreien zu können. Sie sind darauf angewiesen, dass der Staat seinen Aufgaben nachkommt, sorgsam mit Steuergeldern umgeht, was auch bedeutet, in guten Tagen für schlechte vorzubeugen, seine Hoheitsrechte im Inneren wie auch an der Grenze durchsetzt. Ein Staat, der sich selbst abschaffen will, ist ein Treppenwitz in der Geschichte und er schadet überdies der europäischen Idee, die ein Konzert der Vielfalt unseres kulturell so reichen Kontinents darstellt. Herkunft schafft Sicherheit, weil es die Möglichkeit fortwährender Vergewisserung ermöglicht, Heimat bietet ein Koordinatensystem, das den Alltag strukturiert und eine Vielzahl an Identifikationen und Beziehungen bietet. Nur der in seiner Region lebende Mensch ist wirklich frei, der globalisierte ein Spielball fremder Interessen, denn nichts hält ihn, nichts schützt ihn, ihn, der zur Monade wird. Freiheit endet, wenn es im Freisein von und Freisein im, kein „im“ mehr existiert, sondern nur noch ein „von“. Ohne Sicherheit wird der Bürger nicht frei, sondern vogelfrei.
Der 3. Oktober trägt den Namen „Tag der deutschen Einheit“, was dem einen oder anderen bereits schwer über die Lippen geht, noch schwerer aber der Begriff Nationalfeiertag, denn das ist der 3. Oktober für die Deutschen, wie der 14. Juli der der Franzosen und der 11. November der der Polen ist. An diesen Tagen wehen Nationalflaggen – und nicht nur an diesen Tagen. Im ZDF jedoch sagte die linke Aktivistin Sophie Sumburane: „Mecklenburg-Vorpommern ist auch braun. Wenn wir da an die Ostsee fahren, fahren wir da an Deutschlandfahnen vorbei, die da wehen.“ Niemand in Palermo oder in Avignon käme auf die Idee, dass Sizilien oder die Provence „auch braun“ wären, weil man dort la bandiera tricolore oder die drapeau tricolore flattern sähe. Die Italiener begehen sogar am 7. Januar den Feiertag der Tricolore (Festa del Tricolore).
Eine scheinbar nicht geringere Abneigung gegen die Flagge der Bundesrepublik zeigte die Bundeskanzlerin, die auf der Siegesfeier der CDU nach der Bundestagswahl 2013 sichtlich angewidert dem damaligen Generalsekretär der CDU ein Deutschland-Fähnchen aus der Hand riss und es von der Bühne entsorgte. In keinem anderen europäischen Staat wäre es auch nur denkbar, dass der Regierungschef die Staatsflagge für unpassend hält. Was beiden, Aktivistin und Bundeskanzlerin, unbekannt zu sein scheint, ist, dass gerade die Farben unserer Nationalflagge historisch die deutsche Demokratie versinnbildlichen.
In den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 trat bei den Freiwilligenverbänden zuerst diese Farbkombination auf und wurde bald danach als Symbol für den Kampf um die deutsche Einheit, für die Freiheit und demokratische Rechte von den Burschenschaften genutzt. 1832 wehte die Fahne über dem Hambacher Fest, auf dem sich die bürgerliche Opposition gegen die Restauration versammelte. Von da ab gelten die Farben Schwarz-Rot-Gold als Symbol für die deutsche Demokratie, für Freiheit und für Selbstbestimmung. Die Frankfurter Nationalversammlung bestimmte Schwarz-Rot-Gold 1848 zur deutschen Kriegs-und Handelsflagge. Mit der Niederwerfung der Revolution 1849 wurde diese Farbkombination aus dem öffentlichen Leben verband. Erst die Weimarer Republik machte Schwarz-Rot-Gold wieder zu ihrer Flagge. Die SPD, das Zentrum und die DDP gründeten als Wehrverband zum Schutz der Weimarer Republik das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold.
Nicht nur die Farben sind in Verruf geraten, auch die Nation und der Nationalstaat. Wer heute an diese Geschichte erinnert, wer auf die Notwendigkeit des Nationalstaates hinweist, wird ohnehin als Rechter, als Rechtsextremer oder gleich als „braun“ (Sophie Sumburane) heruntermoralisiert.
Das gelingt deshalb so mühelos, weil der Nationalstaat und die Nation mit zwei Weltkriegen, mit den Verbrechen des faschistischen Deutschlands, mit Antisemitismus, Rassismus und Großmachtchauvinismus wesenseins gemacht werden. Diese Geschichte darf nicht nur nicht vergessen oder verdrängt werden, sondern sie hat uns stete Warnung und auch Mahnung zu sein. Zur historischen Wahrheit gehört jedoch auch, dass die Nationalsozialisten in Kategorien wie „Rasse“ und Volk im Sinne eines homogenen Volkes dachten. Die Vorstellung einer Nation auf der Basis der Staatsbürgerschaft, die nicht auf Abstammung oder rassistischen Definitionen beruhte, war ihnen fremd. Die große Entwicklung, die Europa im 19. und 20. Jahrhundert nahm, die Modernisierung, die sozialen Fortschritte, wären ohne die Nationalstaaten undenkbar gewesen, wobei es zu beachten gilt, dass Nation und Nationalismus sich sehr wohl unterscheiden können. Anders ausgedrückt: den Nationalisten gehört nicht die Nation. Es greift zu kurz, die Ursache für die Kriege in der Nation zu sehen. Bevor in Europa die Nationen sich herausbildeten, fanden bereits fortwährend Kriege unter Nutzung der kompletten technischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten der jeweiligen Zeit statt. Verkürzt gesagt, würde die Aussage zutreffen, hätte in Europa kein Dreißigjähriger Krieg mit derart verheerenden Auswirkungen ausbrechen dürfen. Bei näherem Hinsehen erweist sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Elitenversagen – ein aktuelles Thema. Um es in einer gewagten These auszudrücken: Die heutigen Nationalstaaten Europas würden mit Sicherheit keine kriegerischen Auseinandersetzungen gegeneinander führen. Viel gefährlicher ist, dass durch die Aufhebung der Strukturen in geradezu mittelalterlicher Weise gewaltsame Auseinandersetzungen ausbrechen, teils auch, weil der angestrebte Multikulturalismus sich zu einem Multitribalismus entwickelt. Aydan Özoguz hat versucht, diese Gefahr ins Positive zu wenden, indem sie forderte, dass wir die Art und Weise, wie wir zusammenleben, stets neu auszuhandeln haben. Das bedeutet im Klartext, auf Recht und Gesetz zu verzichten und darauf zu setzen, dass sich die stärkste Gruppe durchsetzt. Dort, wo Recht und Gesetz geachtet werden, braucht nichts „ausgehandelt“ zu werden, denn es ist schon ausgehandelt. Dazu passt, dass Aydan Özoguz außer in der Sprache keine deutsche Kultur erkennen kann. Deutlicher kann man den Zusammenhang von Nation und Kultur nicht machen.
Wir werden Europa verlieren, wenn die Kulturen aufgehoben werden. Ein starkes Europa wird nur aus selbstbewussten Nationen entstehen, die zusammenarbeiten und ihre Eigenheiten in das Konzert Europas einbringen, Nationen, die das Eigene wahren und entwickeln und daher auch voller Achtung den anderen gegenüber sein würden, weil wir alle Europäer und den gleichen Werten verpflichtet sind. Es lohnt, über Charles de Gaulles Idee des Europas der Vaterländer mit einem neuen Ansatz noch einmal nachzudenken. Von der Nation her könnte ein starkes Europa entstehen.