Europa

Europa fehlt das Kreuz 

Den europäischen Staaten stellt sich die Sinn- und Systemfrage. Die bisherigen Antworten waren Nationalismus oder ein nahezu religiöses Bekenntnis zur europäischen Einheit. Für den Kontinent, der schon so lange im Konflikt  mit sich selbst liegt, ist beides zu wenig.
Europa ist auf der Suche nach Identität
Foto: Adobe Stock | Europa ist auf der Suche nach Identität und nach gesellschaftlicher Verfasstheit. Für Marco Gallina ist auch der Gedanke an die Religion als bindende Klammer, nicht ausgeschlossen.

Wir sind die Menschen von gestern. Die Cancel Culture der Gegenwart ist (auch) das Symptom eines Ohnmachtsgefühls, die eigene Vergangenheit nicht bewältigen zu können. Frühere Generationen haben die Kapitulation vor der Vergangenheit ironisiert oder sich in Zukunftsillusionen geflüchtet. Der Futurismus des beginnenden 20. Jahrhunderts war eine andere Lösung für dasselbe Problem. Er pflegte die Vorstellung, durch Abstreifen des Alten und Hingabe zum Neuen eine andere  entlastende   Perspektive zu öffnen.

Minderwertigkeitskomplexe oder Überforderungssituationen, die darin resultieren, die Vergangenheit als unerreichbar oder als Ballast zu begreifen, sind zwei Seiten desselben Bewusstseins. Max Weber, Siegmund Freud, Robert Koch und sogar Albert Einstein sind ein Jahrhundert entfernt; doch ähnlich, wie die heutige Lebensreformbewegung unter grünem Label firmiert, so bestimmt die Gesellschaft noch immer Denken und Mentalität der europäischen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Die zentrale Diagnose ist dieselbe: Europa liegt im Konflikt mit sich selbst.

Mentalitätsmäßig immer noch in den Zeitlinien des Empires

Es ist ein grundlegender, anhaltender Konflikt, der mindestens zur Französischen Revolution zurückreicht, dessen Wurzeln sich aber weit tiefer in die europäische Geschichte hineinbohren. Es ist der Konflikt, die eigene Tradition und Herkunft mit den Ansprüchen der Moderne in Einklang zu bringen. Es ist zugleich ein Konflikt, den Europa überwunden glaubte, der aber heute mehr denn je gärt. Die Geschichte des "kurzen 20. Jahrhunderts" stellt sich rückblickend als Parenthese heraus: totalitäre Ideologien, Diktaturen und der Kalte Krieg haben die Sinnkrise des "Fin de siècle" nur eingefroren, sie aber nicht gelöst. Die Gegenwart gelangt demnach nicht an das Ende der Geschichte, sondern ist eine Fortsetzung des 19. Jahrhunderts. 

Die Zuckungen dieser Rückkehr des 19. Jahrhunderts treten in der europäischen Tagespolitik offen zutage. Der Brexit ist kein Bruch mit der europäischen Geschichte. Er ist auch mehr als der Taschenspielertrick eines begnadeten Rhetorikers. Er war angesichts eines Volkes, das mentalitätsmäßig immer noch in den Zeitlinien des Empires "fühlt" gar nicht anders möglich. Die britischen Interventionen auf dem Kontinent begründete stets der Gleichgewichtsgedanke, keine Hegemonialmacht auf dem Festland zuzulassen. Die "splendid isolation" beschreibt den historischen britischen Charakterzug deutlicher als Vereinigungsfantasien. Großbritanniens Rückkehr in seine historischen Bahnen war daher eine Hypothek, die abbezahlt werden musste   und nicht etwa eine Entgleisung auf dem sicher geglaubten Weg ins Brüsseler Reich.

„Indes geistert nicht nur in Deutschland
das nebulöse Wort eines "Great Reset" zwischen den Zeilen.“

In Spanien dagegen opponiert eine linksextreme Regierung gegen Klerus und Tradition. Die seit Jahren schwierigen Regierungsbildungen, die Kontroverse um die eigene Vergangenheit und Zukunft sowie die Unbeherrschbarkeit einer ganzen Region wecken Erinnerungen an ein Jahrhundert der Wirren, als die einstmals stolze katholische Nation Opfer rivalisierender Ideologien wurde.  

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Indes geistert nicht nur in Deutschland das nebulöse Wort eines "Great Reset" zwischen den Zeilen. Der Ruf schallt, dass es eine "Revolution" bräuchte, auf dem Land liege der "Staub von 200 Jahren". Nicht ein populistischer Rädelsführer auf dem Marktplatz hat in dieses Horn gestoßen, sondern der Fraktionsvorsitzende der größten deutschen Partei im Bundestag, die seit 16 Jahren regiert. Die Sehnsucht nach einem "reinigenden Gewitter" ist groß.

Zeitvertreib in transzendentaler Obdachlosigkeit

Der Fehlschluss liegt nah, dass die gegenwärtige Brute Époque wie die vergangene Belle Époque in den Schützengräben ihr Ende findet. Das wäre eine vulgärmachiavellistische Geschichtsdeutung. Der kolportierte Nationalismus war nicht die Ursache der europäischen Explosion. Vielmehr war es die nihilistische Überzeugung, wie sie in Literatur, Drama und Philosophie der Zeit ständiges Thema war; der Übervater der Dekadenz-Romane, Joris-Karl Huysmans, hatte nach der Sezierung des damaligen Zeitgeistes im Kultbuch "Gegen den Strich" selbst nur noch die Wahl zwischen "Pistole oder Kreuz" und entschied sich zur Rückkehr ins katholische Leben. Diese Wahl ist die entscheidende Chiffre in damaligen wie heutigen Dekadenz, in der banale Vergnügungen und materialistische Weltanschauungen dominieren. Letztere sind Zeitvertreib in der transzendentalen Obdachlosigkeit, in der das Individuum ohne Gott auf sich selbst zurückgeworfen ist – ein Zustand, den Lukács bereits im Jahr 1916 für das bürgerliche Leben diagnostizierte. Der Hurra-Patriotismus war Füllmittel, nicht Antrieb: er füllte das Loch in einem sinnbefreiten Leben, befriedigte die Sehnsucht nach Ekstase, ja nach "Heil" in einer gottlos gewordenen Welt, die nach ihrer eigenen Entzauberung keine Wunder, keine Erlösung und keine Wahrheit mehr kannte.  

Dass der post-revolutionäre Kontinent seit Robespierre ideologischen Massenpsychosen verfällt, gehorcht der Zwangsläufigkeit: jede große Aufgabe, jede Herausforderung, jede Abwechslung in einer farblosen Gegenwart wird zum Ersatz für das der Seele Europas entrissene, einstmals verinnerlichte Messopfer. Der Nationalismus von 1914 war nicht der von 1814   und erst recht nicht der von 2014. Bereits 1914 war der Nationalismus eine archaische, eine verstaubte Idee, er war allerdings eines der wenigen gesellschaftlichen Bindeglieder, auf das sich die Europäer angesichts der Relativierung von Religion, Tradition und Familie einigen konnten. Im "Reigen" von Arthur Schnitzler herrscht eine Sexualmoral vor, die der heutigen kaum nachsteht, aber die Ordnung funktionierte, solange wenigstens Kaiser und Vaterland noch etwas galten. Friedrich Nietzsches Rolle in dieser Epoche war nicht die eines Vordenkers einer moralfreien Zeit, sondern eines Analysten, der vorhersah, dass die Abschaffung der Moral nicht das Schlusskapitel war, sondern die Bereitstellung eines überzeugenden Gegenangebotes zwingend machte.

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Die Sinn- und Systemfrage Europas

Letzteres steht nach dem Zusammenbruch gleich mehrerer totalitärer Ideologien und "Umwertung aller Werte" immer noch aus. Selbst die moderne Demokratie samt Liberalismus galt zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts als überholt angesichts der Herausforderungen der Massengesellschaft. Schon vor 1939 zeichnete sich die Mehrzahl der europäischen Staaten durch ihren autoritären Charakter aus. Dass die Demokratie heute das vorherrschende System Europas darstellt, liegt an ihrer Wiedererweckung nach dem Zweiten Weltkrieg, um sie in Stellung gegen den sowjetischen Kommunismus zu bringen. Wie Rom nach dem Wegfall Karthagos stellt sich den europäischen Staaten die Sinn- und Systemfrage, deren bisherige Antwort das nahezu religiöse Bekenntnis zur europäischen Einheit war. Aber auch die EU soll in ihrer endgültigen Fassung nicht etwa ein Österreich-Ungarisches oder gar Heilig Römisches Reich sein, sondern ein vergrößerter Europäischer Nationalstaat. An die Stelle des Nationalismus tritt nicht etwa eine abendländische Ideologie mit Sinn für kulturelle, religiöse und institutionelle Besonderheiten, sondern ein dumpfer EU-Nationalismus als Karikatur des 19. Jahrhunderts. Es ist nicht ohne Ironie, dass die meisten Gegner dieses Projekts   vermeintliche Reaktionäre und Populisten   in Wirklichkeit Nationalliberale sind, deren eigener historischer Bezugspunkt nicht weiter als bis zum Kaiserreich von 1871 zurückreicht. 

Es gilt dabei nicht nur einer Renaissance europäischer Werte das Wort zu reden. Dass die Sinnkrise Europas nicht direkt nach der Revolution begann, sondern in der langen Friedens- und Wohlstandszeit nach dem Deutsch-Französischen Krieg, resultiert nicht zuletzt aus der Kunst der damals noch jungen Nationalstaaten, Tradition und Moderne zu verbinden. Die Gegenwart sieht dagegen einen Widerspruch in einem autobegeisterten Kaiser oder einem Märchenkönig, der einen hochtechnisierten Hof hielt. Die hochaustarierte Restauration nach dem Wiener Kongress wird zum reaktionären Schreckgespenst verklärt. Es herrscht die Parole von Maß und Mitte, obwohl sich die Gegenwart gerade dadurch auszeichnet, maßlos in der Anwendung ideologischer Werkzeuge zu sein; indes sie mittellos ist, wenn es darum geht, die Widersprüche von Tradition und Moderne zu lösen, weil die Tradition in den Augen der Federführer ihre Gleichwertigkeit verloren hat. 

Religion als verbindender Faktor

Bisher existieren nur zaghafte Bemühungen, einen neuen Bogen zu spannen, der diese Gegensätze überbrückt. Die Impulse gehen von Staaten aus, die dem Warschauer Pakt angehörten. Auch der Ostblock bekam durch den Kommunismus eine Parenthese verordnet. Sie wirkte sich aber auf die Mentalität anders aus: Sie stärkte das Bewusstsein für die Kostbarkeit des Lebens im Angesicht der Diktatur. Sie stärkte den Sinn für Einzigartigkeit und Vergänglichkeit. In Polen erwuchs die Religion zum verbindenden Faktor als sie de facto verboten war. Ungarn beruft sich wieder auf den Heiligen Stephan und interpretiert sich selbst als christliche Demokratie. Es sind Gegenkonzepte zur "ewigen Demokratie" Westeuropas. Gegenkonzepte die tragen könnten, indes Europa sich in seiner Lethargie weniger einer Explosion, denn einer Implosion entgegenschleppt.

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