Religionsphilosophie firmiert im heutigen philosophischen Betrieb, zumal in Deutschland, allgemein als eine Randsparte; dass sie eine zentrale Perspektive auf Philosophie im Ganzen ist, vielleicht, weil es buchstäblich um Gott und die Welt geht, sich als eigentliches Gegenüber von Religion erweist, geht dabei verloren. Dazu setzt Hans Otto Seitschek, langjähriger Oberassistent am Guardini-Lehrstuhl in München, mit seiner profunden Monographie, der umgearbeiteten Fassung einer Münchner Habilitationsschrift aus dem Jahr 2011, einen klaren Gegenakzent. Ihm geht es um nicht weniger als um eine tektonische Neubestimmung der Religionsphilosophie und darum, innerhalb der Philosophie einen weder konfessionell eingeschränkten, noch „kulturwissenschaftlich eingeengten“ Reflexionsraum für Religion und religiöse Phänomene zu eröffnen. Hilfreich und klärend ist das systematische Einleitungskapitel, das zunächst, im Horizont der Debatten über ,Politische Religionen‘ der Moderne, Religion und Ideologie unterscheidet und sodann der Religionsphilosophie selbst ihr Proprium zuweist, in kluger Unterscheidung von Theologie sowohl wie einer selbst religiösen, etwa christlichen, Philosophie, aber auch einer auf das Religionsphänomen begrenzten ,Philosophie der Religion‘. Religionsphilosophie ist demnach eine zu gelebter Religion Distanz wahrende, auf das Ganze der Philosophie bezogene Reflexion von Religion, die ihre Eigenständigkeit gegenüber Religionswissenschaften und ebenso der Theologie aufrechterhalten soll. Vor dem Horizont dieser Klärung wendet sich Seitschek vier, über die Geschichte verteilten leitenden Paradigmen zu, die er kenntnisreich und mit teils neuen Belichtungen und systematischen Implikationen überdenkt. Ausgehend vom Platonischen Verständnis von Philosophie als Lebensform und dem christlichen Logos im Sinne Augustins, wird gezeigt, wie bei Thomas von Aquin die Fragen der Substanzontologie immer in Bezug auf Gott und das Verhältnis von Natur und Gnade behandelt werden. Dies macht Thomas geradezu zum Leitparadigma einer Religionsphilosophie im Seitschekschen Sinn.
Seine Hegel-Interpretation orientiert Seitschek primär auf die einschlägigen Kapitel in der ,Phänomenologie des Geistes‘, im Licht der späteren Vorlesungen. Er konstatiert eine „Verschmelzung von Religion und Philosophie“ zu einer ,religiösen Philosophie‘, die, anders als Thomas, nicht mit dem philosophischen System identisch werde. Aufschlussreiche und diskutierenswerte Parallelen arbeitet Seitschek, orientiert am Verhältnis von Subjekt und Geist, zwischen Hegel und buddhistischen Ansätzen heraus. Eine sehr profilierte Reflexion widmet er dann Nietzsche als einem „Religionsphilosophen ,ex negativo‘, ein Zug, der besonders prägnant am Tod Gottes zum Ausdruck kommt. Es ist Seitscheks Anliegen, bei allem von ihm nicht geleugneten Rückgang Nietzsches in die Antike, dessen gesamte Philosophie „von seiner versuchten Überwindung des Christentums und der Religion her zu denken“. Aus der Religionsphilosophie des 20. Jahrhunderts sodann isoliert Seitschek vor allem zwei Paradigmata: Einmal die Wiedergewinnung und subtile Neuformation der Gottesbeweise bei Mackie, Swinburne und dem frühen John Hick, die auf die Realität Gottes zielen und die Annahme von deren Plausibilität nahelegen. Dies ist für Seitschek deshalb wichtig, da mit dem Gottesbegriff und seiner Realität nach seiner Überzeugung Religionsphilosophie steht und fällt. Hicks‘ spätere religionspluralistische Konzeption, im globalen Zeitalter vielfach von großer Wirksamkeit, sieht unter dem Signum „Gott ist größer“ die verschiedenen Religionen wie Strahlen auf ein entzogenes, hinter der Erscheinung undenkbar und unvorstellbar werdendes Absolutes zulaufen, das keine von ihnen erfassen kann. Seitschek nimmt diesen Ansatz kritisch in den Blick, er verweist auf die Gefahr des Synkretismus und der „Entkernung“ von Religion. Dennoch wird er ihm, als einer Umformung der Phaeonomena-Noumena-Unterscheidung bei Kant gerecht.
Am Ende wird die Gegenwärtigkeit von Religion thematisiert. Dabei muss, wie Seitschek in erfreulicher Offenheit sagt, offenbleiben, ob denn Religion im frühen 20. Jahrhundert wiederkehre, oder ob sie nie unsichtbar gewesen, aber durch andere Leitkonflikte überlagert worden sei. Von hier her können in einem sehr instruktiven Abschlusskapitel neue Anwendungsfelder der Religionsphilosophie skizziert werden, die auch in das Zentrum akuter öffentlicher Debatten führen: Etwa die von Jan Assmann angestoßene Diskussion über Monotheismus und Gewalt, zu der Seitschek begründet und klug Stellung nimmt oder die hier naturphilosophisch überdachte Problematik von anthropologischen Grundlagen des Naturrechts.
Nicht zuletzt aber zeigt sich das Proprium des Ansatzes von Seitschek darin, dass er Religion als „Deutung der Wirklichkeit“ begreift, vielleicht als die umfassendste und tiefste. Diese Intention trägt auch seine Schlussbemerkung, dass Philosophie, wenn sie sich der Religionsphilosophie beraubt oder sie doch marginalisiert, eine zentrale Perspektive verlieren muss. Deutlich wird hier, dass mit dem Ort der Religionsphilosophie auch der Begriff der Philosophie selbst auf dem Prüfstand steht: Expliziert sie noch einen systematischen Gesamtzusammenhang, geht sie noch oder wieder auf die Wesens- und Wahrheitsfrage aus, oder ist sie in der babylonischen Gefangenschaft von einzelwissenschaftlichen Rationalitäten und Detailüberlegungen gefangen. Im ersteren Fall wird sie auf das Gegenüber der höchsten Realität nicht verzichten können: Gottes; im anderen wird sie zu einer Wissenschaft unter anderen.
Hans Otto Seitschek ist es gelungen, die Dimensionen dieser Frage konzise, kristallklar und zugleich mit historischer und systematischer Tiefenschärfe darzustellen, Voraussetzung dafür, dass im Sinn der großen Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. die Komplementarität von Glaube und Vernunft immer neu im Blick ist.
Hans Otto Seitschek: Religionsphilosophie als Perspektive. Eine neue Deutung von Wirklichkeit und Wahrheit. Springer Verlag, Wiesbaden, 434 Seiten, ISBN-13: 978-365812-243-0, EUR 69,99
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