Seit 30 Jahren füllt ein Festival in Baden-Württemberg eine schmerzliche Lücke in der deutschen Opernlandschaft: In Wildbad im Schwarzwald wird einem Genius der italienischen Oper, Gioachino Rossini, gehuldigt. Mit unendlicher Geduld, Mühe, Einfallsreichtum und ständig viel zu knappen Finanzen leistet dieses Festival unersetzliche Pionierarbeit. Es stellt Opern von Rossini vor, die sonst in Deutschland nie gespielt würden. Es präsentiert seine Werke in neuen kritischen Editionen. Und es warf immer wieder einen Blick auf das musikalische Umfeld Rossinis, das von Francesco Morlacchi, dem angeblichen Konkurrenten Webers in Dresden, bis hin zu Peter Joseph von Lindpaintner, dem einst höchst erfolgreichen Stuttgarter Hofkapellmeister, reicht.
Wie wichtig diese Arbeit ist, zeigt sich in diesem Jahr, in dem sich der Todestag Gioachino Rossinis zum 150. Mal jährt. Unter den über 6 000 Aufführungen der 83 öffentlich subventionierten Musiktheater in Deutschland findet sich von Rossini fast ausschließlich sein unverwüstlicher „Barbiere di Siviglia“. Trotz ehrgeiziger Versuche, auch den ernsten Rossini und die Vielfalt seines Schaffens auf die Bühne zu bringen, hat sich an dieser Mono-Struktur nichts Wesentliches verändert.
Das betrübt und wirft einen bezeichnenden Blick auf die Trägheit in den Chefetagen deutscher Opernhäuser. Denn in Bad Wildbad sind seit Jahren quicklebendige Alternativen zu erleben. In dieser Jubiläums-Spielzeit des Festivals zum Beispiel „L'Equivoco stravagante“, zu Deutsch in etwa „Das absonderliche Missverständnis“. Rossinis erste abendfüllende Oper aus dem Jahr 1811 zeigt den 19-Jährigen bereits im Vollbesitz seiner musikalischen Mittel.
Das Libretto von Gaetano Gasbarri ist voll köstlich schlüpfriger Sprachspiele, die anfangs sogar die Zensur überlisten konnten. Und die Personen sind lebendig und humorvoll gezeichnet: Ein reicher, geadelter Bauer, der sich wie eine Figur Nestroys einer gehobenen Gesellschaft (und Sprache) anzunähern bemüht, seine gewitzte Tochter, die – da liegt das namensgebende Missverständnis – als Kastrat ausgegeben wird, damit sie der Ehe mit einem reichen, angeberischen Dummkopf entgeht, ein schlauer Diener – Vorbote des „Figaro“ in Rossinis „Barbier“ – und der romantisch schmachtende, leider aber unbemittelte verliebte Jüngling. Das Ganze wird in Wildbads reizendem Kurtheaterchen in einer lebendigen Regie von Festival-Intendant Jochen Schönleber geboten, mit leicht gedämpftem Schaum dirigiert von José Miguel Pérez-Sierra und gesungen von hinreißenden jungen Stimmen wie Antonella Colaianni (Ernestina) und Patrick Kabongo (Ermanno).
Doch nicht allein die Oper steht in Bad Wildbad auf der Agenda. An ungewöhnlichem Ort, einem Aussichtsturm am Ende eines Baumwipfelpfads, hoch über den Tannen und Fichten des Schwarzwaldes, erklang Rossinis „Petite Messe Solennelle“.
Ein stringentes Argument, dieser Messe aus dem Jahr 1864 den religiösen Ernst abzusprechen, gibt es nicht. Dennoch steht die letzte groß angelegte Komposition des „Schwans von Pesaro“ bis heute unter religiösem Vorbehalt. Keinem Domkapellmeister würde es wohl einfallen, mit der Messe an einem hohen Feiertag die katholische Eucharistiefeier zu gestalten.
Rossinis geistliches Werk wird unterschätzt
Dennoch: Rossinis geistliches Meisterwerk ist nicht frömmer oder weniger fromm als Bachs h-Moll-Messe, und von Musik auf den Glauben eines Komponisten zurückzuschließen, ist selbst im Falle der allerchristlichsten Meister, ob Bach oder Palestrina, ein höchst problematisches Verfahren: Man kann ein „Et incarnatus est“ musikalisch so ernsthaft und theologisch richtig wie nur irgend möglich gestalten und muss dennoch so wenig daran glauben wie Giuseppe Verdi an Schwindsucht litt, als er die ergreifenden Melodien zu den Abschiedsworten von Violetta in „La Traviata“ aufs Notenpapier schrieb.
Was bleibt, ist die Kunst, durch Musik den Zuhörer zu erreichen und den vertonten Worten Sinn und Bedeutung zu geben. Und in diesem Punkt muss sich Rossini keinen Vorwurf gefallen lassen. So humorvoll er in seinem Vorwort mit dem Wortspiel „musique sacrée“ (geistliche Musik) – sacrée musique (verfluchte Musik) jongliert, so verschmitzt er dem Credo die Anweisung „Allegro cristiano“ beigibt: Die Komposition trägt keine ironischen Züge, und dort, wo die Musik kantabel, glanzvoll und blühend ist, muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass der heitere Ausdruck des Glaubens nichts mit „lustig“ zu tun hat.
Rossini zeigt sich in seiner Messe der älteren Choraltradition bewusst, so wie er offenbar auch durch das Studium Johann Sebastian Bachs angeregt wurde. Richard Osborne entdeckt in der „Petite Messe Solennelle“ verblüffend neuartige Züge, die auf die spätere geistliche Musik eines Gabriel Fauré und sogar Francis Poulenc vorausweisen. Der polnische Górecki Chamber Choir legt in der Polyphonie offen, wie subtil Rossini die Stimmen führt. Im Credo gestaltet er die Auferstehungsbotschaft „Et resurrexit“ als hymnisches Bekenntnis. Das Sanctus ist kein Jubelhymnus, sondern ein diskretes Lob mit einem tröstlichen Benedictus. Und der Mars leuchtet hell am Himmel, als der Chor in sanftem Pianissimo „Dona nobis pacem“ formuliert: Die Bitte um Frieden als Kontrast zum strahlenden Planeten, der den Namen des antiken Kriegsgotts trägt.
Baurzhan Anderzhanov zeigt, dass er inzwischen zu den führenden Rossini-Stimmen seines Fachs gezählt werden darf. Marina Comparato ergänzt ihn mit weich geführtem Alt und zeigt glanzvolle solistische Momente im Agnus Dei. Silvia Dalla Benetta tritt im „Qui tollis“ hinzu – einem jener Frauenduette, die Rossini auch in seinen Opern als magische Höhepunkte zu gestalten verstand. Mert Süngü hat mit dem „Domine Deus“ eine dankbare Solo-Nummer, die im Wechsel von Arioso und Marcato („Rex caelestis“) expressiv geschärft gesungen werden soll. Mit Antonino Fogliani leitet ein Dirigent die Aufführung, der sich auch mit diesem Stück für das Festival unendliche Meriten verdient hat; am Klavier sorgt Michele D'Elia für das rhythmische Gerüst.
Mit „MoIse“, der französischen Fassung der biblisch fundierten Rossini-Oper über den Auszug der Israeliten aus Ägypten, hatte das Festival einen weiteren Programmpunkt mit religiösem Bezug im Programm. Rossini setzt den Fokus – wie Schönleber in seiner sonst wenig profilierten Inszenierung – auf den Gegensatz der Herrschenden und der Unterdrückten; die Konfrontation des biblischen Patriarchen, gesungen von Alexej Birkus, mit dem Oberpriester der Isis, Oziride (wieder grandios: Baurzhan Anderzhanov) gewinnt heute, angesichts fundamentalistisch ausgetragener religiöser Konfrontationen, ungeahnte Aktualität. In der Oper zeigt der Gott Israels seine Überlegenheit durch die befreiende Tat. Und die ambitionierteste Produktion am Ufer der Enz, Rossinis „Zelmira“, offenbart eine Oper, die im Anspruch an die Stimmen, aber auch der musikalischen Faktur und dem Eindruck ihrer dramatischen Handlung höchstes Niveau erreicht: Ein dankbares Stück für eine große Bühne, denn die tragenden Rollen Zelmira (Silvia Dalla Benetta), Ilo (Mert Süngü), Antenore (Joshua Stewart) und Emma (Marina Comparato) müssen technisch exzellent und expressiv gesungen werden.
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