An kaum einem anderen Phänomen wird der radikale Wandel der Sehgewohnheiten des Menschen in der Moderne so deutlich wie an der Rezeptionsgeschichte der impressionistischen Malerei: Bilder von Künstlern wie Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir oder Paul Cézanne, die heute auf Wandkalendern in jeder zweiten Arztpraxis zu bewundern sind, wurden zu ihrer Entstehungszeit als Skandal, als Provokation, als Affront gegen die etablierten Regeln der Malerei aufgefasst – und so waren sie von ihren Schöpfern auch gemeint. In Abgrenzung von Romantik und Klassizismus galt das Interesse der impressionistischen Maler weniger dem dargestellten Gegenstand, als vielmehr der ästhetischen Wirkung von Farb- und Lichteffekten, weshalb sie die Freilichtmalerei – die erst durch die 1841 patentierte Produktion von Ölfarben in Tuben technisch möglich geworden war – der Arbeit im Atelier vorzogen. Der enorme Eindruck, den die künstlerische Revolution des Impressionismus auf die Nachwelt gemacht hat, hat allerdings auch dazu geführt, dass die Bekanntheit und Popularität der Werke der Begründer dieser Kunstrichtung diejenige der nachfolgenden Generation von Malern bis heute weit in den Schatten stellt. In besonderem Maße gilt das für die ab den 1880er Jahren aufgetretene Bewegung der „Neoimpressionisten“, die die Impulse des Impressionismus aufgriff und weiterentwickelte und damit eine Brücke zum Fauvismus, zum Expressionismus und zur abstrakten Kunst schlug. Einem weitgehend in Vergessenheit geratenen Hauptvertreter dieser Richtung, Henri-Edmond Cross, widmet das Museum Barberini in Potsdam noch bis zum 17. Februar eine Retrospektive.
Viele der Werke von Cross sind noch verschollen
Der 1856 im nordfranzösischen Douai geborene Henri-Edmond-Joseph Delacroix, der sich ab 1883 – um eine Verwechslung mit dem berühmten, wegen seiner Farbtechnik auch von den Impressionisten als Vorbild verehrten spätromantischen Maler Eugene Delacroix (1798–1863) zu vermeiden – Cross nannte, malte anfangs im realistischen Stil, ehe er sich der impressionistischen Freilichtmalerei zuwandte. Durch die Begegnung mit dem Werk des 1891 im Alter von nur 31 Jahren verstorbenen Georges Seurat wurde Cross zu einer Maltechnik angeregt, die sich durch die Zerlegung der Farbflächen in einzelne reinfarbige Punkte auszeichnet und daher auch als „Pointilismus“ bezeichnet wird. Diese Technik griff zeitgenössische wissenschaftliche Erkenntnisse über Farbenlehre und Farbwahrnehmung auf, insbesondere Eugene Chevreuls Entdeckung des sogenannten „Simultankontrasts“ (1839) sowie Hermann von Helmholtz' Forschungsergebnisse über die physiologische Funktionsweise des menschlichen Auges aus den 1850er Jahren.
1891 schloss sich Cross einer Künstlergruppe an, für deren wesentlich von Seurat mitgeprägten Stil der einflussreiche Kunstkritiker Félix Fénéon die Bezeichnung „Neoimpressionismus“ eingeführt hatte. Im selben Jahr ließ er sich aus gesundheitlichen Gründen an der Côte d'Azur nieder. Die lichtdurchfluteten Landschaften der französischen Riviera prägten seine Malerei nachhaltig; so wich Cross bald vom strengen Pointilismus Seurats ab, an die Stelle feiner, mit akribischer Präzision gesetzter Farbpünktchen trat ein breiterer, energischerer Pinselstrich, wodurch sich die Tendenz zur Auflösung der Form zugunsten der Farbe verstärkte. Gleichzeitig arbeitete er zunehmend mit ausgeprägten Komplementärfarbkontrasten. In einem Notizbuch hielt Cross, der als der intellektuellste und belesenste der neoimpressionistischen Maler galt und sich für die Philosophie Schopenhauers und Nietzsches und für die Dichtung der französischen Symbolisten begeisterte, den Wunsch fest, „in Versen zu malen“: In Farbe und Form sollte sich ein lyrischer Rhythmus ausdrücken. Wie viele seiner Künstlerkollegen sympathisierte Cross mit der anarchistischen Bewegung, die im Frankreich der 3. Republik insgesamt stark im Aufwind war, und strebte danach, auch in seiner Malerei anarchistische Utopien auszudrücken. So schrieb er im Jahr 1893 in einem Brief an seinen Freund und Malerkollegen Paul Signac: „Ich möchte das Glück malen, die glücklichen Wesen, die die Menschen in einigen Jahrhunderten sein können, wenn die reine Anarchie verwirklicht ist.“ In seinen letzten Lebensjahren wandte Cross sich verstärkt Aktgemälden mit mythologischen oder allegorischen Anklängen zu. Der belgische Dichter Émile Verhaeren bemerkte im Jahr 1905, Cross gehe es in seinen neueren Werken nicht mehr um die „Verherrlichung der Natur“, sondern die „Verherrlichung einer inneren Vision“, in der sich ein „pantheistischer Eifer“ ausdrücke. Am 16. Mai 1910, wenige Tage vor seinem 54. Geburtstag, erlag Henri-Edmond Cross einem Krebsleiden.
Dass Cross, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als einer der führenden französischen Avantgardisten galt und gerade in Deutschland als Wegbereiter der Moderne gefeiert wurde, hierzulande nur noch wenigen Kunstkennern ein Begriff ist, ist zweifellos wesentlich dadurch bedingt, dass seine Werke während der Herrschaft des Nationalsozialismus als „entartete Kunst“ eingestuft wurden; viele seiner Bilder, namentlich aus der Sammlung des bedeutenden Mäzens Harry Graf Kessler (1868–1937), aber auch aus dem Bestand des Museum Folkwang in Essen und des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt am Main, wurden beschlagnahmt und ins Ausland verkauft, einige davon gelten seither als verschollen.
Heute besitzen nur noch drei deutsche Museen Gemälde von Cross. Dem Museum Barberini gebührt das Verdienst, Werke des Künstlers aus zahlreichen Museen in aller Welt sowie aus privaten Sammlungen zu einer großangelegten Retrospektive vereint zu haben und so einen repräsentativen Querschnitt durch sein Gesamtwerk zu bieten.