„Ich kann dazu nichts sagen, ich bin ja keine Frau“, sagt ein Mann schuldbewusst, wenn es um Abtreibung geht. „Ein Weißer hat kein Recht dazu, über Rassismus zu sprechen“ wird behauptet, wenn diskutiert wird, in welchem Kontext man eine historische Bezeichnung für einen dunkelhäutigen Menschen verwenden darf.
„Jeder begreift sich als Zentrum,
Anfang und Ende jedes Gedankens und jeder Erfahrung“
Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte eine solche Haltung als ignorant gegolten: Da will sich jemand nicht die Mühe machen, sich in eine fremde Lebenswelt einzudenken und zieht sich aus der Verantwortung. Heute gilt das Gegenteil: Wer sich untersteht, eine Meinung zu haben, ohne weiblich, schwarz, queer oder was auch immer zu sein, sei überheblich.
Man geht nicht mehr davon aus, dass ein Mensch dazu in der Lage sein könnte, von sich selbst abzusehen. Von rationaler Erkenntnis ohne Rückgriff auf „persönliche Erfahrung“ wollen wir gar nicht erst reden, dies wird im gesellschaftlichen Diskurs postwendend als Arroganz ab- und disqualifiziert.
Diese Herangehensweise an Diskurs behauptet, ohne es zu reflektieren, dass es echte Empathie und damit auch echte Kommunikation nicht gäbe: Unsere Lebenswelten stehen unverbunden nebeneinander, wir können einander im Grunde gar nicht verstehen, weil wir ja nicht wirklich nachempfinden und mitfühlen können.
Das Gegenüber wird Spiegel der Selbstvergewisserung
Eine solche Einstellung passt in unsere überindividualisierte Welt: Jeder begreift sich als Zentrum, Anfang und Ende jedes Gedankens und jeder Erfahrung. Da hat der Andere maximal als Spiegel zur Selbstvergewisserung einen Platz, nicht als Gegenüber, dessen Motive und Emotionen es wert sind, mehr als nur „wahrgenommen“ zu werden. Der Unwille, sich dem Anderen zu widmen, wird aber natürlich als positiv dargestellt: Ist es nicht Ausdruck von Respekt, sich der eigenen Grenzen bewusst zu sein, nicht übergriffig zu sein? Sicher. Nur ist der Mensch auch darauf ausgerichtet, sich aus sich selbst heraus dem andern entgegenzustrecken, ihn im besten Fall sogar zu berühren! Statt diese Eigenschaft zu kultivieren, wird sie der Ignoranz verdächtigt: Eine Frechheit, zu einem Thema Stellung nehmen zu wollen, ohne „direkt betroffen“ zu sein (wobei zu definieren wäre, was das Betroffensein eigentlich ausmacht). Logisch: Glaubt man nicht an die Existenz von Empathie, ist jeder Kommentar zu Erfahrungen, die man nicht selbst gemacht hat, vermessen.
Kunst und Kultur beweisen uns dagegen beständig, dass Empathie wirklich und wirksam ist: Wie lässt sich sonst erklären, dass die Psychogramme, die James' „Portrait of a Lady“ oder Tolstois „Anna Karenina“ zeichnen, präzise und zutreffend sind, obwohl hier Männer das Seelenleben einer Frau schildern, das sie doch angeblich gar nicht erfassen können? Können wir über Beecher-Stowes „Onkel Toms Hütte“ sagen, dass eine Weiße das Schicksal eines schwarzen Sklaven nicht mit angemessener Betroffenheit schildern könne? Wir müssen uns also ganz offensichtlich nicht einschüchtern lassen von Versuchen, uns einzureden, eine der schönsten menschlichen Fähigkeiten überhaupt, die, sich in die Lebenswelt des Nächsten einzufühlen und einzudenken, sei nur Illusion.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.