Eine Welt, die nicht seine war

Günther Rüthers Biographie über Tucholsky ist fesselnd zu lesen. Von Christoph Böhr
Kurt Tucholsky
Foto: IN | Durch die Justiz der Weimarer Republik gefährdet: Kurt Tucholsky.

Sich in den Wirren der Zeit zu behaupten, bleibt keinem Menschen erspart. Aber zu manchen Zeiten haben diese Wirren die zerstörerische Kraft eines Strudels, der jeden verschlingt und dem selbst ein erfahrener Schwimmer nicht gewachsen ist. Eine solche Zeit war wohl die Weimarer Republik, in deren Verlauf alle untergingen – mit Ausnahme derjenigen nationalistischen Extremisten, die sie mit Haut und Haaren bekämpften und am Ende allein das Sagen hatten.

Mitten in diesem erbitterten Streit stand Kurt Tucholsky. Die anderthalb Jahrzehnte, in denen die Republik verzweifelt um ihr Überleben kämpfte, waren nicht stürmisch – das wäre viel zu harmlos ausgedrückt. Tag für Tag blies der Republik, die nie wirklich eine Möglichkeit hatte, sich zur Wehr zu setzen, ein Orkan ins Gesicht – ausgelöst durch politisch-radikale Extremisten von Rechts und von Links, die es beidseitig darauf anlegten, ein Beben nach dem anderen zu verursachen, um die Republik zu zerstören.

Zu denen, die dabei kräftig mitmischten und austeilten, gehörte Tucholsky: der wohl bekannteste Essayist und Kolumnist: ein begnadeter Polemiker. Er lebte von 1890 bis 1935 – und sein Leben war Weimar. Über ihn und seine Zeit hat Günther Rüther jetzt ein Buch geschrieben: Ein Buch, das den Leser fesselt, weil die aufgewühlte Geschichte der sich selbst zerstörenden Weimarer Republik in anschaulicher Form geschildert und in nachvollziehbarer Weise gedeutet wird.

Tucholskys Leben war die Weimarer Republik, ein ständiger, ruheloser, aufreibender Kampf: gegen die Feinde der Republik, zu denen für ihn als „Linksintellektuellen“ auch die bürgerlichen Parteien zählten. Er wanderte von der SPD über die USPD zur KPD – doch niemand nahm seinen Anspruch auf politische Mitwirkung und -gestaltung wirklich ernst. Nicht, dass er es in oder mit einer Partei je versucht hätte, Einfluss auf die Verhältnisse zu nehmen. Seine Attitüde war die es Intellektuellen, der es besser wusste als alle anderen – und der sich maßlos darüber ärgerte, dass die anderen nicht nach der Melodie tanzten, die er in seinen meist bissig-witzigen Essays und Kommentaren vorgab. So stand er vor verschlossenen Türen, hatte als Publizist einen hervorragenden Ruf, war aber politisch heimat- und wirkungslos. Er wollte es so. Sich zu binden widersprach seinem intellektuellen Anspruch und seinem publizistischen Widerspruchsgeist, die bürgerliche Mitte verachtete er, Politiker waren ihm durch und durch suspekt und Kompromisse jeglicher Art verhasst.

Jemand wie Tucholsky musste politisch scheitern. Obwohl er vieles klar und hellsichtig vorhergesehen hat, verhallte seine Stimme. Er lehnte die parlamentarisch-repräsentative Demokratie – wie viele seiner linken Zeitgenossen – ab zugunsten der Forderung nach einer radikalen, pazifistisch, kosmopolitisch, revolutionär, antimilitaristisch und sozialistisch orientierten Politik. Damit stand er am Rand des Geschehens, denn die Mehrheit der Gesellschaft war von solchen Vorstellungen um Lichtjahre entfernt. Also blieb ihm nur die Rolle des einsamen Individualisten. „Wir Negativen“ nannte er Leute, die so dachten wie er – allesamt Individualisten, vielleicht auch Idealisten, untereinander heillos zerstritten und zu gemeinsamen Unternehmungen so unwillens wie unfähig.

Mit gutem Grund hat Rüther diese Überschrift eines programmatischen Essays „Wir Negativen“ vom März 1919 zum Titel seiner Biographie gemacht. Denn in dieser Redewendung kommt so ziemlich alles zum Ausdruck, was die Linke in der Weimarer Republik kennzeichnete: eine grandiose Selbsttäuschung, die sie von Anfang an zum Misserfolg verurteilte. Es fehlte dieser Gruppe jeglicher Sinn für das Machbare. Ist das Spannungsverhältnis zwischen Geist und Macht tatsächlich zu überwinden? So, wie Rüther Tucholskys Fundamentalkritik an den Weimarer Verhältnissen sachgerecht und nicht ohne Anteilnahme beschreibt, werden beim Leser Zweifel wach, ob es damals einen anderen Weg als den der Fundamentalkritik tatsächlich gab. Beispielhaft und ausführlich wird die politische Justiz der Weimarer Republik beschrieben, die Tucholsky nicht nur auf die Palme brachte, sondern für ihn und seine Mitstreiter stets auch eine existenzielle Gefahr darstellte.

Allein in den Jahren 1918 bis 1920 standen 314 politisch motivierten Morden von rechts ganze 13 von links gegenüber. Die Justiz verhängte gegen die Attentäter von rechts für 314 Morde insgesamt 31 Jahre und drei Monate Freiheitsstrafe sowie eine lebenslange Festungshaft. Für die weit geringere Anzahl der Morde von links wurden demgegenüber acht Todesurteile sowie 176 Jahre und zehn Monate Freiheitsstrafe festgesetzt. Die Hintermänner kamen in der Regel ohnehin ungeschoren davon. Und so wurde oft bestialisch aus dem Weg geräumt, wer den radikalen Rechten – und das waren anfangs noch nicht die Nationalsozialisten – missfiel: nicht nur Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Kurt Eisner und Gustav Landauer, sondern auch Matthias Erzberger und Walther Rathenau. Die Klassenjustiz, in scharfer Opposition zum Rechtsstaat stehend, sich später aber der Diktatur bereitwillig beugend, drückte immer wieder beide Augen zu. Einen solchen Angriff von innen überlebt keine Republik.

Und dass ein Mann wie Tucholsky angesichts dieser nahezu tagtäglichen Erfahrungen jede Form des politischen Kompromisses mit der Rechten – von vielen Politikern für unabdingbar gehalten –, radikal ablehnte, kann man verstehen.

Innere Friedlosigkeit führte zum Ende der Republik

Das Problem war nur: Diese Radikalität nährte im Ergebnis das ohnehin tiefe innere Zerwürfnis in Staat und Gesellschaft, die innere Zerrissenheit, die doch gerade hätte überwunden werden müssen. Und so bleibt festzuhalten: Dass die Weimarer Republik unterging, ist allem voran ihrer inneren Friedlosigkeit geschuldet, und die wurde durch die antirepublikanische Fundamentalkritik linker wie rechter Intellektueller zwar nicht verursacht, aber sehr wohl geschürt.

Mit Haut und Haaren in die Grabenkämpfe der Zeit eingewoben, stellte sich bei Tucholsky allmählich das Gefühl ein, in einer Welt zu leben, „die nicht die seine war“. Er verließ Deutschland, lebte in Frankreich, der Schweiz und in Schweden. Innerlich zerrissen wie die Republik war er selbst. „Als er aus dem Krieg heimkehrte, wollte er der Demokratie Flügel verleihen. 15 Jahre später erlebte er ihren Untergang. Er hatte die Vergangenheit verloren, die Gegenwart erdrückte ihn, die Zukunft schien ihm hoffnungslos.“ Kurz nach seiner Ausbürgerung durch die Nazis starb er im Exil in Göteborg – unter Umständen, die bis heute nicht ganz geklärt sind. Sein Leben war so rast- und ruhelos wie die Zeitumstände, unter denen er litt.

Rüthers empathisch-kritische Biographie eines großen politischen Essayisten, vom Verlag liebevoll ausgestattet, ist jedem historisch, politisch wie literarisch interessierten Leser im Jahr des 100. Geburtstages der Weimarer Verfassung ans Herz zu legen. Auch wenn Berlin nicht Weimar ist: Die Aktualität dieses Buches – seine Frage nach dem inneren Frieden des Gemeinwesens – liegt auf der Hand.

Günther Rüther:
„Wir Negativen“. Kurt Tucholsky und die Weimarer Republik.
Wiesbaden 2018, Marix Verlag, ISBN 978-3-7374-1101-1, 335 Seiten, EUR 26,–

Themen & Autoren
Christoph Böhr Karl Liebknecht Kurt Tucholsky Matthias Erzberger Nationalismus Rosa Luxemburg SPD Walther Rathenau Weimarer Republik

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