Eine schwache Truppe

Warum es bei der Bundeswehr nicht mehr rund läuft und warum uns dies in einer unsicheren Welt nicht gleichgültig sein darf. Von J. Kraus und R. Drexl
Bundeswehr. Soldaten in Mecklenburg-Vorpommern
Foto: Daniel Bockwoldt (dpa) | Bundeswehr-Soldaten in Mecklenburg-Vorpommern.

Werfen wir einen Blick zurück ins letzte komplette Kalenderjahr der Bundeswehr – ins Jahr 2018: Zeitweise war keines der sechs U-Boote fahrbereit; beim ADAC mussten 6 500 Flugstunden angemietet werden, um Fluglizenzen von Flugzeugführern der Bundeswehr zu erhalten; von den 128 Eurofightern waren kaum mehr als vier ohne jede Einschränkung einsatzfähig; von 68 Hubschraubern des Typs Tiger waren nur zwölf voll einsatzfähig; von den Transporthubschraubern CH-53 nur 16 von 72, von den Transporthubschraubern NH 90 nur 13 von 58, vom (neuen!) Transportflieger A400M gerade mal drei von 15, und von den Leo-II-Panzern waren es 105 von 244; die Flugbereitschaft der Luftwaffe schaffte es wiederholt nicht, einen Bundespräsidenten oder eine Kanzlerin rechtzeitig ans Ziel zu bringen; deutsche Einheiten mussten in Afghanistan zivile Hubschrauber anmieten. Das war 2018. Hat sich daran etwas geändert? Nein, in der Kürze der Zeit konnte sich auch kaum etwas zum Besseren wenden.

Die Bundeswehr pfeift nach wie vor aus dem letzten Loch. Seit der Wiedervereinigung wurde sie kaputtgespart, „Friedensdividende“ war angesagt.

Jetzt steht sie personell ausgedünnt da, das Material ist kaum einsatzfähig, die Organisation ist in einem desaströsen Zustand. Eine Reform jagt die nächste. Besser ist dadurch kaum etwas geworden, außer dass der Reformeifer die Illusion des Fortschritts aufkeimen ließ. Tatsächlich ist die Bundeswehr mit Ausnahme einiger weniger Bereiche, wie zum Beispiel Krisenreaktionskräfte KSK (Kommando Spezialkräfte), einzelner Marine- und Heereseinheiten sowie fliegender Verbände, zu einer Reformruine geworden. Über all dem darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Bundeswehr über die beschriebenen Probleme hinaus auch heute noch über Tausende von hochmotivierten Soldaten und zivilen Mitarbeitern verfügt, die ihre Treuepflichten gewissenhaft erfüllen.

Allerdings haben überhastete Strukturreformen die Bundeswehr tatsächlich zu einem teuren Torso verkommen lassen. Keine Geringere als Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es maßgeblich zu verantworten, dass die Armee ihrer Kernaufgabe der Landesverteidigung nicht mehr gerecht wird. Merkel hat bislang vier Verteidigungsminister „verbraucht“; sie war die einzige, die ab 2005 immer da war und Verantwortung trug. Sie wäre nach dem Grundgesetz im Verteidigungsfall die Oberbefehlshaberin der Streitkräfte. Aber die Bundeswehr wurde von ihr wie ein Stiefkind behandelt, sonst hätte sie als Regierungschefin bestimmte Koalitions- und Haushaltsentscheidungen nicht mitgemacht, wie sie sie mit Blick auf ihre Richtlinienkompetenz zu verantworten hat.

Es ist überhaupt noch weniger als „freundliches Desinteresse“, das die Bundeswehr in Politik und Gesellschaft vorfindet. „Freundliches Desinteresse“ – diesen Begriff hatte der damalige Bundespräsident Horst Köhler bei einer Kommandeurtagung am 10. Oktober 2005 geprägt. Mittlerweile ist daraus eine Haltung geworden, die zwischen Gleichgültigkeit und Aversion oszilliert. Realiter ist die Bundeswehr im Alltag auch kaum noch sichtbar. Es gibt immer weniger Soldaten, und von diesen scheuen sich immer mehr, außerhalb ihrer Dienststellen in Uniform aufzutreten. Zugleich befindet sich die Bundeswehr seit einem Vierteljahrhundert im „Einsatz“. Nicht THW-ähnlich, wie manche vermitteln wollen, sondern im kriegerischen Einsatz, denn Deutschland konnte sich nach der Wiedervereinigung nicht länger verweigern. Der mit der NS-Vergangenheit begründete pazifistische Sonderweg genügte nicht mehr, denn mittlerweile wird solche Argumentation, angesichts von kriegerischen Konflikten mitten in Europa oder unmittelbar vor Europas Haustür, eher als Ausrede verstanden. Mit deutscher Sonder- und Hypermoral ist es nicht getan.

Wir sind mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der Sowjetunion eben nicht am „Ende der Geschichte“ angelangt, das der US-Politologe Francis Fukuyama 1992 in einem Buch dieses Titels meinte verkünden zu können. Eine allumfassend friedliche, liberale Weltordnung gibt es nicht und wird es auch nicht so bald geben. Von solcher Illusion ließ sich deutsche Politik paralysieren – nach dem Motto: Jetzt können wir Milliarden sparen und sozialpolitisch segensreich ausgeben. Die Bundeswehr verkam zum Steinbruch, aus dem man sich (vermeintlich kostenfrei) ständig bediente.

Man war der Überzeugung, von lauter Freunden umgeben zu sein. Auf die damit verbundenen Gefahren haben die militärischen Verantwortungsträger seinerzeit hingewiesen. Parlament und Regierung ignorierten die Einwände, bis 2014 das Erwachen mit der Ukraine-Krise einsetzte. Dass die Russen bereits seit dem Kaukasuskrieg 2008 militärisch in Georgien eingegriffen hatten, nahm man erst mit mehrjähriger Verzögerung so richtig zur Kenntnis.

Selbst die Personalprobleme der Bundeswehr sind Legion. Vor allem ist der Übergang von der Wehrpflicht- zur Freiwilligenarmee nicht gelungen. Eine Folge davon ist auch, dass es „mehr Häuptlinge als Indianer“ gibt. Jeder vierte Soldat ist heute Offizier. Ansonsten herrscht ein eklatanter Personalmangel. Mit Stand Anfang 2019 waren 25 000 offene Stellen nicht besetzt. Zudem soll die Bundeswehr von 180 000 Soldaten bis 2025 auf 203 000 Soldaten anwachsen. Ob in Zeiten einer prosperierenden Wirtschaft und erheblicher Nachwuchssorgen des gesamten öffentlichen Bereichs ausreichend Nachwuchs gefunden werden kann, ist mehr als fraglich.

Was muss geschehen? Gewiss geht es auch um das „Zwei-Prozent-Ziel“. Das heißt: Deutschland muss endlich bereit sein, zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für äußere Sicherheit, respektive Bundeswehr auszugeben. Selbstverständlich sinnvoll auszugeben! Dieses Ziel kann die politische Linke mit ihrem typischen Anti-Amerikanismus nicht damit abtun, dass US-Präsident Donald Trump diese zwei Prozent von den Deutschen nun vehement einfordert. Nein, es geht nicht um Trump, sondern es geht darum, dass Deutschland der NATO diese zwei Prozent lange vor Trump zugesagt hat. Heute stehen wir bei 1,3 Prozent.

Mit mehr Geld allein ist es freilich nicht getan, mehr Geld allein würde etwa dem Skandal um die Reparatur der Gorch Fock nur weitere hinzufügen. Heerscharen von Beratern würden davon profitieren, nicht aber der Steuerzahler. Gefragt sind jetzt sorgfältig abgestimmte Programme für die Reorganisation der Streitkräfte und für notwendige Beschaffungsvorhaben, um die Ausrüstungsmängel zu beseitigen. „Reformen“ in systemfremden Bereichen wie eine übertriebene Arbeitszeitregelung, ein ausufernder Datenschutz, unmilitärische Gleichstellungsprinzipien, unsinniger Umweltschutz mit Abgasuntersuchungen in Afghanistan und das Betreiben von Kinderkrippen in Kasernen vernebeln das Kerngeschäft zusätzlich.

Jetzt ist politische Überzeugungsarbeit gefordert und nicht ein naiver populistischer Pazifismus. Die Autosuggestion, seit dem Niedergang des Warschauer Paktes auf Dauer nur noch freundlich gesinnte Partner um sich zu haben, hat die Gefahren der globalisierten Welt aus dem Blick geraten lassen. Die freiheitliche demokratische Grundordnung ist kein Selbstläufer auf ewig. Zudem möchten NATO und EU darauf vertrauen können, dass unser Land einen adäquaten Beitrag zu einer gemeinsamen Politik der äußeren Sicherheit leistet.

Allerdings haben unsere Partner das Zutrauen verloren, dass die Bündnisarmee Bundeswehr gleiche Risiken auf sich nimmt, wie sie von ihnen getragen werden. Es kann jedenfalls nicht angehen, dass Deutschland Aufklärerfotografen und Sanitäter in den Einsatz schickt und die Bündnispartner die militärische „Drecksarbeit“ machen. Manchmal verweigert man sich sogar hier: Deutschland hat bereits zweimal seine Soldaten aus der gemeinsam betriebenen NATO-AWACS-Luftüberwachung zurückgezogen. „Es ist eine abenteuerliche Vorstellung, Deutschland könne im Einzelfall aus einem System aussteigen, das ihm nicht alleine gehört. Damit macht man die gemeinsame Verteidigung kaputt“, sagte Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe am 10. Februar 2019 dazu im „Tagesspiegel“.

Die Deutschen sind gerne und zu oft Weltmeister im Wegducken und Verdrängen. Das Schockerlebnis der Balkankriege scheint zu lange her zu sein. Europa war weder in Bosnien noch im Kosovo in der Lage, das Morden zu stoppen, die USA mussten das Heft in die Hand nehmen. Die Europäer betonten damals zwar, sie hätten die Lektion gelernt, aber wäre das heute grundlegend anders? Rhetorische Frage: Wäre die EU heute in der Lage, einen Krieg in unmittelbarer Nachbarschaft ohne Hilfe der USA zu verhindern oder gar militärisch zu beenden?

Die Politik muss den Bürgern dieses Landes sagen, dass die Zeit in der Komfortzone zu Ende ist und pazifistische Reflexe keinen Frieden in Freiheit garantieren. Unsere Freiheit ist so kostbar, dass es sich lohnt, sie zu verteidigen, im Extremfall auch militärisch. Moralisierende Oberlehrer in den sogenannten Leitmedien und in gewissen Parteien sollten sich ihrer Verantwortung besinnen, die sie dafür tragen, dass das Gewaltmonopol des Staates auch nach außen erhalten bleibt. Es wird höchste Zeit, dass die politisch Verantwortlichen mit der Bevölkerung offen reden. Denn die Bundeswehr ist eine zutiefst wichtige und stabilisierende Einrichtung für unser Land und für Europa. Sie wieder zum Laufen zu bringen, ist jede Mühe wert.

Von den Autoren ist aktuell erschienen: Josef Kraus/ Richard Drexl: Nicht einmal bedingt abwehrbereit – Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine. FinanzBuchVerlag München, Juni 2019, 240 Seiten, Euro 22.99
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