Traditionell gehört es zum mit Stolz vertretenen Selbstverständnis von Universitäten, dass sie Orte der freien Rede und des offenen Austauschs und Wettbewerbs von Ideen seien. In jüngster Zeit gilt dies allerdings nur noch eingeschränkt: Mehr und mehr gewinnt im akademischen Milieu die Auffassung an Boden, bestimmte Standpunkte seien es nicht wert, diskutiert oder auch nur angehört zu werden, da sie als rückschrittlich, anti-emanzipatorisch, diskriminierend oder geradezu als „Hassrede“ zu klassifizieren seien. Personen, die in den Verdacht solcher Anschauungen geraten, werden von Vorträgen und Podiumsdiskussionen ausgeladen. „Deplatforming“ nennt man das: jemandem die Plattform entziehen oder verweigern, von der er seine unerwünschten Ansichten verkünden könnte.
Nach der feministischen Kulturhistorikerin Camille Paglia, dem Philosophen und Europaparlamentarier Ryszard Legutko, dem Politikwissenschaftler Charles Murray und US-Präsidententochter Ivanka Trump – um nur einige zu nennen – hat es nun auch Richard Dawkins getroffen. Der namhafte Evolutionsbiologe, Religionskritiker und führende Kopf des sogenannten „New Atheism“, der 2005 vom Magazin „Prospect“ auf Rang 3 der bedeutendsten Intellektuellen der Gegenwart (nach Noam Chomsky und Umberto Eco) gewählt wurde, war von der renommierten Historischen Gesellschaft des Trinity College in Dublin, einer der führenden Universitäten Europas, zu einem Vortrag eingeladen worden – aber dann wurde die Einladung plötzlich widerrufen. Zur Begründung wurde auf problematische Äußerungen Dawkins' zum Islam sowie zu sexueller Gewalt verwiesen.
Es mag einigermaßen tragikomisch wirken, wenn einem Intellektuellen, der seine Bekanntheit außerhalb wissenschaftlicher Fachkreise hauptsächlich seinem dezidierten Atheismus und seiner vehementen Religionskritik verdankt, gerade seine Haltung gegenüber dem Islam zum Vorwurf gemacht wird – so als sei es zwar akzeptabel, das Gesamtphänomen Religion für ein Übel zu erklären, das die Menschheit endlich überwinden müsse, nicht aber, diese Ansicht auf eine bestimmte Religion anzuwenden, oder wenn doch, dann jedenfalls nicht auf diese. Die Begründung für die Absage des Dawkins-Vortrags am Trinity College liest sich indes nicht so, als sei sie von der Furcht motiviert, sich den Zorn radikaler Islamisten zuzuziehen.
Islamkritiker werden es künftig zunehmend schwerer haben
Man wolle es vermeiden, den Hörern „Unbehagen zu bereiten“, hieß es da; und offenbar wurde dabei nicht allein an strenggläubige Muslime gedacht, sondern auch, wenn nicht sogar vorrangig, an Personen, in deren politisch-ideologischem Koordinatensystem Islamfeindlichkeit als „rechts“ oder mehr oder weniger explizit als rassistisch markiert ist. Diese Zuordnung führt auch dazu, dass säkular gesonnene Ex-Muslime oder andere tendenziell linksgerichtete Islamkritiker es zunehmend schwer haben, mit ihren Anliegen Gehör zu finden.
„Autoritärer Utopismus“
Man tut gut daran, die Dawkins-Ausladung im Zusammenhang mit dem Siegeszug einer Ideologie zu betrachten, die in praktisch allen bedeutenden sozial-politischen Bewegungen der jüngsten Zeit, von Antirassismus-Kampagnen über die Frauen- und LGBT-Bewegung bis hin zu Umwelt- und Klimaschutzinitiativen, eine einflussreiche Rolle spielt und die sich – auch wenn ihre Anhänger sich selbst zumeist als „links“ und ihre Gegner folglich als „rechts“ verorten – mit den althergebrachten Kategorien von Rechts und Links letztlich nur unzureichend beschreiben lässt. Der Kulturkritiker Wesley Yang hat für sie die Bezeichnung „successor ideology“, also „Nachfolgerideologie“, geprägt; insbesondere in den USA wird sie vielfach mit dem aus der afroamerikanischen Umgangssprache entlehnten Schlagwort „woke“ (sinngemäß etwa „erwacht“) assoziiert.
Laut Yang handelt es sich dabei um einen „autoritären Utopismus“, der sich an die Stelle des liberalen Humanismus zu setzen anschicke, indem er diesen von innen aushöhle. Die machtvollste Waffe dieser Bewegung ist die Behauptung, die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse seien von „struktureller Diskriminierung“ geprägt, als deren Opfer man sich sieht. Der von dem großen Vordenker des klassischen Liberalismus, John Stewart Mill, formulierte Satz, eine zivilisierte Gesellschaft dürfe gegen ihre Mitglieder nur zu dem einen Zweck Zwang ausüben, „die Schädigung anderer zu verhüten“, wird durch eine Bewegung, deren Aktivisten permanent lautstark proklamieren, ihnen sei Schaden zugefügt worden, praktisch ad absurdum geführt.
Ein „No Go“: Islam und sexuelle Gewalt
Dass Aktivistengruppen, die sich beispielsweise für die Rechte von Frauen und von Homosexuellen einsetzen, gleichzeitig keine Kritik am Islam zulassen wollen, mag angesichts der Zustände in vielen islamisch geprägten Gesellschaften widersinnig erscheinen; tatsächlich produzieren die unterschiedlichen Elemente der von Yang beschriebenen Ideologie jedoch fortwährend solche inneren Widersprüche, die durch übergeordnete theoretische Konzepte wie jenes der „Intersektionalität“ – also der Überschneidung und Verquickung verschiedener „Unterdrückungszusammenhänge“ – nur notdürftig zusammengehalten werden können.
Aus Sicht der Propagandisten dieser Ideologie ist das nicht unbedingt ein Mangel; im Gegenteil, gerade diese Widersprüchlichkeit ermöglicht es ihnen, absolut jede Äußerung, so unschuldig sie auf den ersten Blick erscheinen mag, als diskriminierend zu interpretieren und so den Urheber dieser Äußerung zur Unperson zu erklären. Auf diese Weise wird gerade im akademischen Milieu ein Klima permanenter Einschüchterung erzeugt: Niemand ist sicher vor dem Furor der neuen Kulturrevolutionäre, niemand soll sich sicher fühlen dürfen. Gerade dieser irrationale Zug der „Nachfolgerideologie“ macht sie zu einer so schwierigen Gegnerin für den klassischen Liberalismus, dessen schärfste Waffe – die freie und offene Debatte – gegen sie praktisch unbrauchbar ist. Denn debattieren lässt diese Ideologie nicht mit sich.
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