Die Päpstin. Sie verkörpert Intuition, Weisheit und nicht zuletzt Weiblichkeit. Auf dem Kopf trägt sie eine perlenbesetzte päpstliche Tiara, in der Hand hält sie den Schlüssel Petris. Ihr Körper ist in einen goldenen Mantel aus Brokat gehüllt. Der Päpstin begegnet die Protagonistin des 15-minütigen Films, der die Dior Haute Couture Frühling/Sommerkollektion in Szene setzt, gleich zu Beginn ihrer Reise in dem "Tarot-Schloss". Dies kommt nicht von ungefähr, hat die junge Frau doch eingangs bei der Kartenlegerin die Päpstin-Karte gezogen. Bei ihrer Erkundung des mittelalterlich anmutenden Schlosses stößt sie auf weitere symbolhafte Gestalten: den Narren, die Gerechtigkeit, den Gehängten oder den Stern — allesamt Wahrsagekarten des Tarots.
Dies ist kein Zufall. Die opulenten und märchenhaften Kleider der Kollektion sind inspiriert von den Karten mit den angeblich magischen Kräften. Doch nicht nur das: auf einigen Outfits sind Skorpion, Fische oder Widder zu sehen — entnommen den Tierkreiszeichen. Auf der Instagramseite von Dior sind kurze Clips zu sehen, in denen sich die Designerin der Gewänder, Maria Grazia Chiuri, und weitere Mitarbeiter von einer Wahrsagerin die Zukunft voraussagen lassen.
Dilettanten: kommerzielle Hellseherinnen und Wahrsager
Werden die Zuseher all dieser Dior-Filmchen nicht eher dazu animiert, die Wahrsagekarten selber auszuprobieren, anstatt die Kleider zu kaufen? Eins ist sicher: Die Kollektion befindet sich auf einer Linie mit dem Gründer der Luxusmarke, Christian Dior. Der Maestro höchstpersönlich war abergläubisch. Er besuchte seinerzeit Hellseherinnen und Wahrsagerinnen. Eine soll ihm vorausgesagt haben, dass er unter Armut leiden werde. Mit Sicherheit war sie eine Dilettantin, denn jeder weiß, dass das Gegenteil eintraf.
Mode ist Kunst und Kunst ist immer ein Spiegel der Zeit. Dass sich eine Haute Couture-Kollektion im Jahr 2021 um Tarot und Horoskope dreht, ist nicht verwunderlich. Esoterik boomt. Die Oster-Umfrage der Tageszeitung Der Standard ergab 2018, dass 60 Prozent der Österreicher glauben, dass es Kraftplätze gibt, deren Besuch einen geistig stärkt. Dass man mit Wünschelruten Störungen und Schwingungen auspendeln kann, dem stimmen 45 Prozent zu. Hingegen bejahen nur 39 Prozent der Bewohner der Alpenrepublik den ersten Satz des apostolischen Glaubensbekenntnisses "Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen". Werner Beutelmeyer, Chef des Linzer Market-Instituts, das die Umfrage durchführte, kommentierte, dass die Glaubenswelt von Beliebigkeit geprägt ist. Jeder picke sich heraus, woran er gerne glauben will. Vorgaben von Religionsgemeinschaften spielten keine Rolle mehr. Religion ist also out, spirituelle Hilfsmittel, die man sich nach individuellem Geschmack zusammenstellt, in. Dies ist ganz auf Linie der individualistischen, selbstbestimmenden, westlichen Lebenshaltung.
„Die Jünger der Fast-Food-Esoterik
sind oft junge Leute, die sich sonst betont rational,
aufgeklärt und säkular geben“
Die postmoderne Fast-Food-Esoterik, in der sich jeder seine kleinen Not-Helferlein beliebig aussucht, ist geboren. Ihre Tempel sind oft ganz normale Modegeschäfte, die sich auf den zweiten Blick als regelrechte Esoterik-Ableger entpuppen. So handelt ungefähr jedes dritte Buch der Bücherabteilung der hippen Lifestyle-Kette Urban Outfitters von Sternzeichen, Mondmagie, der Kraft von Edelsteinen oder Tarot. Die Jünger der Fast-Food-Esoterik sind oft junge Leute, die sich sonst betont rational, aufgeklärt und säkular geben. Doch scheinbar kann eine Prise Magie und Mystik im Alltag nicht schaden. Für die Prise Zauber in der durch Technik und Wissenschaft entzauberten westlichen Welt sorgen Räucherwerk, Lampen aus Himalaya-Salz und Bilder im "kosmischen Design". Auf diesen sind in goldenen, filigranen Linien die Sternzeichen oder der Mond abgebildet. Sie vermitteln Sehnsucht nach einer geheimnisvollen Welt "da draußen", von der womöglich - verbindet man sich mit ihr - kosmische Kraft ausgeht. Erlösung durch Konsum und Materie.
Die Esoterik der Gegenwart ist beides: allgegenwärtig und zugleich subtil. Madeleine Alizadeh ist Österreichs erfolgreichste Influencerin. Die 32-Jährige informiert unter dem Namen "dariadaria" über Themen des grünen Lebensgefühls: Umweltschutz, Veganismus und Nachhaltigkeit. Seit 2017 betreibt sie eine erfolgreiche Modelinie, deren Kleidung zu 100 Prozent ökologisch und ethisch ist. Zwischen Bildern ihrer Wohnungseinrichtung und 200-Euro-Öko-Sneakers sieht man die Unternehmerin, wie sie auf Instagram Yoga Posen vorzeigt. Auf Bali ließ sie sich nämlich zur Yoga-Lehrerin ausbilden. Unter einem Foto erklärt Alizadeh den Stand der Sternzeichen und bewirbt zwei "Astro-Frauen", die Astrologie und Horoskope auf Instagram betreiben. Den Bereichen Yoga und Meditation widmet die Influencerin ihre Podcast-Reihe "A mindful mess" ("Ein achtsames Chaos").
Die wenigsten erkennen, dass sie esoterisch infiziert sind
Johannes Sinabell bestätigt, dass die sogenannte Gebrauchsesoterik gesellschaftlich etabliert ist und daher nicht mehr auffalle. Der Leiter des Referats für Weltanschauung der Erzdiözese Wien erklärt, dass zwar die wenigsten Menschen Esoteriker genannt werden wollen und die wenigsten auch zugeben würden, dass sie esoterisches Gedankengut teilen, aber dennoch ist die Praxis weit verbreitet. Über das dahinterstehende Weltbild würden sich viele keine Gedanken machen. Der Esoterikmarkt gehe mit dem üblichen, hoch individualisierten und privatisierten Umgang mit Religion weitgehend konform, insofern sei die Nutzung esoterischer Angebote nicht mit einem Stigma verbunden.
Welche Bedeutung hat der Esoterik-Boom für die Kirche? Eines steht mit Sicherheit fest: Er beweist, dass der Mensch eben nicht das rein rationale, atheistische Wesen ist, das sich, wird es in humanistischer Manier nur mit genügend Wissen und Bildung vollgestopft, von den Pfaden des (Aber)Glaubens an höhere Mächte und Kräfte verabschiedet. Die Nutzer sind nicht primär, so die Klischee-Vorstellung, Frauenmagazine lesende Hausfrauen, sondern vor allem Vertreter des bildungsnahen, bürgerlichen Milieus, wie der Leiter des Referats für Weltanschauung bestätigt. Die Vorliebe für Tarot, Horoskope und Wahrsagerinnen, die allesamt ein Eintauchen in eine mystische Welt versprechen, ist ein Fingerzeig, dass der Kontakt zu dem Geheimnisvollen und Übernatürlichen nach wie vor eine Ursehnsucht des Menschen ist.
Die Kirche hat ein konkurrenzlos gutes Angebot
Das sind gute Nachrichten für die Kirche, denn: Welche Einrichtung außer ihr hat ein Angebot, dass über 2000 Jahre alt ist, mit einem antiken Buch, der Bibel, dessen Schriften zum Teil auf das 9. Jahrhundert vor Christus zurück gehen? Niemand bringt den Unterschied zwischen Esoterik und Christentum besser auf den Punkt als der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber in seinem Büchlein "Ich und Du". Hier schrieb er vor knapp 100 Jahren: „Was unterscheidet Opfer und Gebet von aller Magie? Diese will wirken, ohne in die Beziehung einzutreten, und übt Künste im Leeren; sie aber stellen sich ‚vor das Angesicht‘, in die Vollendung des heiligen Grundworts, das Wechselwirkung bedeutet. Sie sprechen Du, und vernehmen.“ In Beziehung zu leben ist nicht immer einfach, es gibt offene Fragen und keine schnellen Lösungen, wie die Befragung eines Tarot-Sets oder das Lesen des Horoskops. Stattdessen gibt es eine Einladung: Einem liebenden Gott vertrauen, der von sich sagt, dass er gut ist und Pläne des Heils für jeden Einzelnen hat.
Esoterische Praktiken sind en vogue unter jungen Menschen. Wie selbstverständlich Kartenlegen, Horoskope und Tarot in der Gesellschaft sind, zeigt sich an der Dior Haute Couture Kollektion, aber auch bei erfolgreichen Influencerinnen. Der Boom ist ein Fingerzeig, dass sich der postmoderne Mensch, trotz Säkularisierung und betonter Rationalität, nach dem Übernatürlichen und Mystischen sehnt
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