Sein Name ist längst eine Marke: Peter Sloterdijk. Der umtriebige Autor und Philosoph mit deutsch-niederländischen Wurzeln wurde in Karlsruhe geboren, wo er nach seinem Studium in München und Hamburg, nach zwei Jahren in der Bhagwan-Kommune in Indien und verschiedener Gastprofessuren weltweit an der Hochschule für Gestaltung Philosophie und Ästhetik lehrte und ab 2001 das Rektoramt der Hochschule in Karlsruhe übernahm. In seiner literarischen Tätigkeit betreut er ein weites thematisches Spektrum. Seinen Durchbruch hatte er im Jahr 1983 mit der „Kritik der zynischen Vernunft“. Die „Sphären“-Trilogie aus den Jahren 1998/1999 gilt als sein größtes Werk. Darin untersucht er unter anderem das Phänomen der Globalisierung. Die „Regeln für den Menschenpark“ sorgten für Aussehen und den Vorwurf „faschistoider Tendenzen“. Das 2017 herausgegebene Buch „Nach Gott“ beinhaltet gesammelte Texte, in denen er die Offenbarungsreligionen kritisiert.
„Ob man sich Sloterdijks Ansichten zur Philosophie und Politik zu eigen machen will oder nicht,
man kommt nicht umhin, seine intellektuellen Pointen zu bewundern,
die sich oft aus einer überraschenden Kombination scheinbarer Gegensätze
und komplexer Begriffe ergeben“
Peter Sloterdijk gehört zu jenen klugen Köpfen, die imstande sind, Gott und die Welt von der Substanz her, aber immer wieder neu zu denken. Er bleibt nicht in Gedankenmustern seiner Generation gefangen, sondern versucht vor allem auf junge Menschen zu hören. Die großen Themen der Menschheit regen ihn nicht auf, sondern zum Denken an. Obwohl er bei vielen als umstritten gilt, bleibt er der Unaufgeregte, der zum Hinterfragen anregen will – und manchmal auch aufregt.
Sein „Grau“ – das zentrale Thema seines neuesten Werkes – lebt er auch tatsächlich. Der Titel des im April erschienenen Buches „Wer noch kein grau gedacht hat“ ist eine Anspielung auf Paul Cézannes: „Solange man kein Grau gemalt hat, ist man kein Maler.“ Diese Idee möchte er auf die Philosophie übertragen. Doch was hat eine einzelne Farbe überhaupt mit der Philosophie zu tun? Die Unentschiedenheit, Neutralität, Indifferenz, Lauheit und Meinungslosigkeit sind alles Attribute, die das Grau bezeichnet.
Die Kirche hat eine sinnstiftende Rolle
Für Sloterdijk geht es aber vor allem um grau, als die notwendige Nuance zwischen schwarz und weiß. Er schließt sich Hegel an, für den dem Grau eine Vermittlerrolle zukommt. Sein aktuelles Buch beschreibt er deshalb als „ein großes Exerzitium über das Dritte“ zwischen Hell und Dunkel. Das Grau sieht er als die Lösung für die fortgeschrittene Spaltung der Gesellschaft, weil es vom Extremismus weglockt. Somit habe das Grau eine „zivilisatorische Mission“. Auch Philosophen sollten lernen, schädliche Konflikte zu meiden und eine innere Distanz zu den eigenen Meinungen aufzubauen.
Sloterdijk, der sich selbst (im Unterschied zu Max Weber) als „religiös musikalisch“ bezeichnet, schreibt Gott ebenso eine „graue“ Eigenschaft zu: die der „Übergleichgültigkeit“. Beeinflusst durch die östlichen Religionen, aber auch die Mystiker des Mittelalters, für die er schon Anfang der 1970er Jahre eine Bewunderung entwickelte, erkennt er vor allem die denkerische und poetische Seite der Mystik an. Obwohl er das Christentum oft kritisiert, liegt ihm eine atheistische Polemik fern. Viel mehr hält er es für sinnvoll, die religiöse Sprache und Bilder als eine Form von Poesie zu betrachten. Auch erkennt er eine gesellschaftliche und sinnstiftende Rolle der Kirche in der Geschichte an. Der Sozialstaat oder die christliche Caritas seien „Früchte“ der Kirche, doch sie seien durch weltliche Institutionen ersetzt worden. Im Grunde sieht der Nietzscheaner Sloterdijk die Welt in einer postreligiösen Epoche angekommen.
Nüchtern aus der homogenen Intellektuellenlandschaft ragend
Bei den brennenden Themen der Politik und Gesellschaft, wie der Flüchtlingspolitik, Pandemie und dem Ukraine-Krieg, bleibt er eine Stimme der Nüchternheit. Seine direkte und eigene Art hebt sich aus der Homogenität deutscher Intellektuellenlandschaft hervor.
Nicht immer machte er sich damit Freunde und wurde durch manche Äußerungen zum „Lieblingsfeind des links-liberalen Feuilletons“. So zum Beispiel, als er sich in der Flüchtlingskrise 2015 gegen Merkels Politik positionierte. Die Europäer und westliche Wohlstandsgesellschaften seien zu gutartig, um sich gegen den Immigrationsstrom in angemessener Weise zu wehren.
Die intellektuellen Pointen überraschen immer wieder
Im Gespräch mit dem Magazin „Cicero“ erklärte er, dass es „keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung“ gäbe. Auch während der Corona-Pandemie meldete sich Sloterdijk zu Wort und sah darin nicht nur eine Form von „Naturterrorismus“, sondern auch eine Chance. Die Pandemie, so sagte er, sei ein soziologischer Glücksfall, der uns eine Lektion über die Immunität lehre: nämlich, dass die Menschen nur dann leben können, wenn sie sich gegenseitig die Sicherheit beschaffen. Die „Querdenker“ würden einem „Kindertraum von Unverwundbarkeit“ anhängen: das eigene Immunsystem hielten sie für stärker als die epidemiologische Bedrohung, die aber nur in gemeinschaftlicher Solidarität zu lösen sei.
Deutliche Worte findet Sloterdijk aktuell auch zu Putins Krieg gegen die Ukraine. „Russland präsentiert sich als eine perverse Form des Antifaschismus“ und „versinkt seit einer Weile in einer unsäglichen Schande“, äußert er sich in Interviews. Doch: Sloterdijk hält Putin für viel weniger psychopathisch, als andere es tun. Der ehemalige KGB-Mann sei eine halbgebildete Person, die zufällig an die Spitze eines großen politischen Komplexes geraten sei und sich sein Drehbuch aus Lügen zusammenfabuliere. Diese habe er so oft wiederholt, bis sie zu seinem Weltbild geworden seien. Wenn es um Themen wie Waffenlieferung geht, bleibt Peter Sloterdijk dem Narrativ des deutschen Mainstreams treu: man darf sich nicht in Kriege hineinreden lassen. Gleichzeitig beweist er Pragmatismus und Empathie, indem er selber mehrfach Flüchtlinge aufgenommen hat.
Auch für Andersmeinende ein geschätzter Denker
Ob man sich Sloterdijks Ansichten zur Philosophie und Politik zu eigen machen will oder nicht, man kommt nicht umhin, seine intellektuellen Pointen zu bewundern, die sich oft aus einer überraschenden Kombination scheinbarer Gegensätze und komplexer Begriffe ergeben. Nicht nur die sprachliche Brillanz, sondern auch seine unprätentiöse Art machen ihn zu einem geschätzten Denker.
In seinem neuesten Werk äußert Sloterdijk ein Interesse-Verhältnis zu allen grauen Tieren – von der Maus bis zum Elefanten. Er sehe sich sogar in einer Seelenverwandtschaft mit dem Elefanten, gab er kund. Ob das nun mit der optischen Erscheinung oder mit der Gedächtnisfunktion eines Elefanten zu tun hat, bleibt offen. Der Verdacht liegt nah, dass der Philosoph Peter Sloterdijk sich selbst mit einer ähnlichen Großzügigkeit und Sympathie betrachtet, wie er es bei den grau gefärbten Tieren tut. Vielleicht ist das Bild eines gutmütigen Elefanten doch eins, das dem Wesen des deutschen Philosophen ziemlich nahekommt. Warum auch nicht. Ob der 26. Juni, der Tag, an dem Peter Sloterdijk seinen 75. Geburtstag feiert, ein grauer Tag sein wird oder sonnig pointiert wird, bleibt jedenfalls noch abzuwarten.
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