So viele Zeichen wie heutzutage waren noch nie. In unseren industriellen Gesellschaften wimmelt es davon. Während sich die Assyrer und Griechen noch mit Meilensteinen begnügten, um den Weg von A nach B zu kennzeichnen und diese zivilisatorische Errungenschaft im Römischen Reich in ganz Europa eingeführt wurde, um schließlich im Britischen Empire weltweite Dienste zu leisten, sind diese Wegmarken in unserer Gegenwart unzählbar geworden. Wer sich heute auf Flughäfen zielführend orientieren möchte, muss zunächst alle dort versammelten Zeichen entschlüsseln können und dann 99 Prozent aller für ihn unwichtigen optischen Informationen ausblenden, um sich ganz auf die wichtigen konzentrieren zu können. Geht dabei die Orientierung verloren, droht ein Zustand, auf den der zum geflügelten Wort gewordene Filmtitel „Lost in Translation“ paßt.
Doch was auf der zivilisatorischen Ebene allgemein anerkannt wird, scheint auf der kulturellen zu einem Ballast geworden zu sein, den abgeworfen zu haben nicht wenige Zeitgenossen sogar für rühmenswert erachten. Bis vor rund 30 Jahren war es für Abiturienten noch selbstverständlich, mit Johann Wolfgang von Goethes „Faust. Der Tragödie erster Teil“ konfrontiert worden zu sein – und zwar nicht in wenigen Häppchen, sondern in voller Länge. So haben sie lesend etwas von Gott, seinen Engeln und seinem mephistophelischen Widersacher erfahren und darüber hinaus, wie es einem deutschen Gelehrten ergehen kann, der zwar „ach! Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch Theologie“ studiert hat und dies sogar „mit heißem Bemühn“, jedoch immer noch voller Verzweiflung ausruft: „Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.“
„Warum beunruhigt es nicht, dass sogar bis hinein
in die deutsche Geisteselite die Fähigkeit verloren gegangen ist,
religiöse Zeichen als solche zu erkennen und zu deuten?“
Wie wichtig es vor allem für Mächtige ist, bedeutsame Zeichen deuten zu können, zeigt eine biblische Geschichte in geradezu exemplarischer Weise. „Mene mene tekel u-parsin.“ Als König Belschazzar sah, wie die Hand eines Menschen diese Wortfolge an die weißgetünchte Wand seines Palastes schrieb, „da erbleichte er und seine Gedanken erschreckten ihn. Seine Glieder wurden schwach und ihm schlotterten die Knie“. So steht es im Buch Daniel, das, wie die anderen Bücher der Propheten, zum Kanon des Alten Testamentes gehört. Damals, im 2. Jahrhundert vor Christi Geburt, war keiner der königlichen Magier in der Lage, dieses Zeichen zu deuten, das erschienen war nach dem Missbrauch der „goldenen Gefäße, die man aus dem Tempel des Gotteshauses in Jerusalem mitgenommen hatte“ und aus denen „der König und seine Großen, seine Frauen und Nebenfrauen tranken“ und, trunken geworden, ihre „Götter aus Gold, Silber, aus Bronzen, Eisen, Holz und Stein“ lobten. Fähig dazu war allein ein Exilant, nämlich der aus seiner Heimat in die babylonische Gefangenschaft verschleppte Jude Daniel. Von Gott inspiriert, konnte er für Belschazzar die Zeichen deuten: „Mene: Gezählt hat Gott die Tage deiner Herrschaft und macht ihr ein Ende. Tekel: Gewogen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden. Peres: Geteilt wird den Reich und den Medern und Persern gegeben.“ Als Folge der Deutung wurde der König der Chaldäer, wie es die Bibel offenbart, noch in derselben Nacht getötet. Diese tiefgründige Erzählung von den Zeichen und seinem Deuter lässt sich heute als Parabel auf den Bildungsnotstand unserer Gegenwart lesen. Warum beunruhigt es nicht, dass sogar bis hinein in die deutsche Geisteselite die Fähigkeit verloren gegangen ist, religiöse Zeichen als solche zu erkennen und zu deuten?
Kunstausstellungen ohne Hintergründe, Filmkritik ohne das Wesentliche
Zwei Beispiele mögen genügen, um zu veranschaulichen, was gemeint ist. Im Frühjahr wurden in der Berliner Gemäldegalerie in einer insgesamt großartigen Schau rund einhundert Bilder der Renaissance-Maler Andrea Mantegna und Giovanni Bellini gezeigt. Fast alle Bilder sind christlichen Themen gewidmet. Doch für die Kuratoren der Ausstellung war das offenbar nebensächlich. Ihr sich im Katalog manifestierendes Denken kreiste ausschließlich um kunsthistorische Spezialfragen. Wer sich in die dortigen Aufsätze vertiefte, erfuhr zwar mancherlei über das enorme Arbeitspensum der miteinander verschwägerten Maler in Venedig und Mantua und über ihre bei aller thematisch-stilistischen Nähe unterschiedliche Maltechnik. Jedoch von ihrem Glauben, von ihrem Leben als Katholiken, von ihrer Beziehung zum dreifaltigen Gott erfuhr der Besucher nichts. Zugespitzt formuliert waren für die Ausstellungsmacher die Szenen von Christi Geburt, Kreuzigung, Tod und Auferstehung bedeutungslos geworden.
Ähnliches, und diesmal auf der Ebene der Rezensenten, lässt sich über den jüngsten Film von Martin Scorsese berichten. Er heißt „The Irishman“ und ist der fünfte des amerikanischen Regisseurs, der eine Geschichte aus der Verbrecherwelt der Mafia erzählt, und wie in den vier vorherigen gilt Scorseses Interesse den Handlungen eines Mörders. Doch was „The Irishman“ von seinen cineastischen Vorgängern elementar unterscheidet, ist das Faktum, dass hier der katholisch getaufte Auftragsmörder Frank Sheeran kurz vor seinem Tode bei einem Priester eine Beichte ablegt und alles darauf hindeutet, dass ihm auch die Absolution erteilt worden ist, die ihn vor der ewigen Höllenstrafe bewahren wird. In allen überregionalen deutschen Zeitungen ist der Film ausführlich besprochen worden. Doch kein einziger Filmkritiker hat über die Beichte geschrieben, niemand hat erkannt, was für „katholische Augen“ unübersehbar war. Ja, mehr noch: Der am Filmende zur Schlüsselfigur für das Verständnis des Films werdende Pater ist von fast allen Kritikern nicht einmal erwähnt worden.
„Verlust an sprechenden Gesten und Handlungen“
Die Bestandsaufnahme dieser offenkundigen „spirituellen“ Mangelerscheinungen wäre unvollständig, wenn wir es versäumten, auf die tiefe Mitschuld der katholischen Geistlichkeit an dieser Misere hinzuweisen. Muss man sich wundern, wenn „die Welt“ die katholische Zeichensprache nicht mehr versteht? Haben nicht Bischöfe, Priester und Ordensleute selbst dabei mitgeholfen, die Signale der Transzendenz aus dem öffentlichen Raum verschwinden zu lassen?
Noch in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts konnte man nicht nur in Italien und Spanien, sondern auch im deutschen katholischen Süden die dort ansässigen Priester in Soutane durch die Gassen und über die Plätze gehen sehen. Sie gehörten zum Stadtbild einfach dazu. Jedoch etwa zwanzig Jahre später sah man die Priester nicht mehr. Waren sie verschwunden? Waren sie weggezogen? Nein, das nicht. Nur trugen sie jetzt „zivil“ und waren von anderen Zivilisten nicht mehr zu unterscheiden. Was würde mit einer Schafherde geschehen, wenn ihr Hirte nicht mehr mit Hut, Wettermantel und Hirtenstab über sie wachte, sondern stattdessen in ein Schaffell gehüllt, auf allen Vieren laufend und „schäfisch“ blökend, nicht mehr als Hirte erkennbar wäre? Die Antwort fällt leicht: Die Herde würde orientierungslos und alsbald ein leichtes Opfer für nimmersatte Wölfe werden, die auf eine Gelegenheit wie diese schon immer gewartet hatten. Und wenn es nur die fehlende Soutane wäre! Wer in die Kirchen hineingeht und aufmerksam die Zeichen vergleicht, die den „Ordentlichen“ vom „Außerordentlichen Römischen Ritus“ unterscheiden, der kann gar nicht anders, als darüber nachzusinnen, warum dieser Verlust an sprechenden Gesten und Handlungen nötig gewesen ist, wem er dient und welche Konsequenzen er nach sich gezogen hat.
Um, was wir sagen wollen, auf eine andere Sphäre zu übertragen: Man stelle sich nur einmal vor, es gäbe auf der Welt keine christlichen Bilder mehr. Nirgendwo mehr Gemälde von Mantegna und Bellini und auch keine von Giotto, Raffael, Tintoretto, Michelangelo und Genies ihresgleichen. Überdies wären auch alle Ikonen von der Erde verschwunden. Stattdessen gäbe es nur noch abstrakte Malerei, irgendwelche Farbspiele, auf denen bestenfalls ab und an noch ein schlichtes Kreuz erkennbar ist. Müsste man sich dann noch wundern, wenn die Welt sich kein Bild mehr vom Gottessohn machen würde und achtlos an ihm vorbeiginge? „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“, heißt es im Prolog des Evangelisten Johannes. Dieser Prolog ist vor der Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil noch nach dem „Missa est“ und vor dem Auszug vom zelebrierenden Priester an der linken Altarseite gelesen worden. Im Novus Ordo fehlt er. Warum?
König Belschazzar hat mit seinem Gefolge „Götter aus Gold, Silber, aus Bronzen, Eisen, Holz und Stein“ angebetet. Exakt das Nämliche geschieht heute in Deutschland. Wer das für übertrieben hält, möge sich jetzt am Beginn des neuen Jahres nur an die Werbe-Orgien und den Kaufrausch der Menschen im Advent erinnern. Was das über die innerste Verfassung unserer Gesellschaft aussagt, lässt sich frei nach dem Propheten Daniel so sagen: Gewogen und zu leicht befunden.
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