Corona

Die Wunde bewirkt das Mitgefühl

Alle Seiten scheinen getrieben: Von Wut, von Entsetzen, von Angst, von Einsamkeit, von Verzweiflung und das, obwohl man aus der Politik mit allen Mitteln versucht, die Bevölkerung zu überzeugen. Doch können die vermeintlichen Fakten wirklich überzeugen? Und kann man mit Fakten und leeren Phrasen empfindsame Geschöpfe regieren?
Masken, Menschen, Mitgefühl?
Foto: Imago | Masken, Menschen, Mitgefühl? Bei der Pandemie kommt es nicht nur auf Zahlen an.

Zahlen und immer wieder Zahlen. Zahlen wie Gottesurteile, Zahlen wie Raster, die sich über die Welt legen. Kaum ein radikaler Aufklärer hätte sich eine derartige Verwissenschaftlichung des Daseins wohl träumen können, wie wir sie in der Pandemie bemerken. Von Anfang an mühen sich Virologie und Politik um eine Rationalisierung des Diskurses, operieren mit Graphen und empirischen Daten, um das Infektionsgeschehen kontrollieren und die Bevölkerung auf Basis von Fakten zur Mitarbeit zu überzeugen. Doch diese Taktik hat, wie wir inzwischen mehr und mehr beobachten müssen, auch erhebliche Schattenseiten zutage gefördert.

Die Politik spaltet die Bevölkerung

Auf die Erklärung der Realität mittels Vernunft reagieren die Empörten mit Gegenkonstruktionen der Wirklichkeit, nämlich den Verschwörungstheorien. Vermag diesen sozialen Graben die Macht des rechten Arguments überhaupt noch zu überwinden? Wohl kaum, denn die Fixierung auf den R-Wert oder die Inzidenz berücksichtigt in der Gesamtdebatte keinerlei affektiven Momente. Dabei sind es Emotionen wie Wut und Zorn, die Corona-Leugner auf die Straßen treiben. Andere zeigen sich wiederum fassungslos über die Ignoranz all derer, die die Gefahr der Lage unterschätzen. Sie sind ihren Ängsten ausgeliefert oder verzweifeln an der Einsamkeit.

Was der öffentlichen Reflexion abhanden gekommen ist, lässt sich genau benennen: das Mitgefühl. „Das Mitleid“, schreibt Werner Schulz einmal in seiner „Philosophie in einer veränderten Welt“, „ist ein unmittelbares Verhalten. Es ist ein Gefühl, das direkt einsetzt beim Anblick eines Leidens anderer. Man kann es insofern in Gegensatz zur Vernunft setzen“. Letztere diene dazu, die große Ordnung zu strukturieren. Aber den einzelnen Menschen in seiner Verletzlichkeit zu erfassen, verspricht sie nicht. Einzig die empathische Involvierung ermöglicht es, das Leiden des Anderen und dessen Bedürfnisse unmittelbar einzusehen.

 Menschen bändigen den Egoismus angesichts des Leids

Nahezu allen Religionen ist es inhärent. Für den Hinduismus und Gandhis Pazifismus stellt es die Grundlage für die Erkenntnis von Wahrheit dar. Mithin gründet das Christentum seinen Ursprungsmythos, aus dem sich das Barmherzigkeitsgebot ableitet, auf einer Passionsgeschichte. Erst das Martyrium Jesu und später vieler Heiliger soll zur Nächstenliebe anregen. Aber auch die Philosophie kultivierte die einzigartige emotionale Öffnung für die Qualen des Gegenübers. Gerade die Wunde, das ikonografische Tor in die Leiblichkeit, gerät immer wieder in den Blick. Wo wir verletzte Menschen sehen, helfen wir, oftmals ohne vorige Abwägung über denkbare Folgen für uns selbst. Wir bändigen den Egoismus sogar biologisch. Längst wissen die Neurowissenschaft, dass teils dieselben Areale gesunder Personen aktiviert werden, sobald sie der Krankheitssymptome Fremder gewahr werden. Unsere Versehrtheit eint uns.

Kann also aus Mitgefühl Miteinander entstehen? Kann es über die Verbindung zu einem einzelnen Menschen hinaus Kitt für die Gesellschaft werden? Wie Arthur Schopenhauer in seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ betont, befördert es die Entwicklung von Moral und damit übergreifenden Werten: „Grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten und bedarf keiner Kasuistik.“ Ferner sei es „allein die Basis aller freien Gerechtigkeit und aller echten Menschenliebe“. Wo findet sich diese Haltung gegenwärtig noch inmitten der aktuellen Diskussionen? Weder stehen die unterkühlten Menetekel eines Karl Lauterbachs, noch die Hasstiraden seiner Gegner im Verdacht, ein Ausweis von Anthroposophie zu sein.

Es ist wichtig, Nähe zu den Bürgern zu zeigen

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Wozu kann man also der Politik raten? In jedem Fall zu einer Mentalität des Zuhörens und – trotz aller Abstandsregeln – zu einer der Volksnähe. Gerade die hinter verschlossenen Türen stattfindenden MinisterpräsidentInnenkonferenzen dokumentieren eine abgehobene Distanz. Dass Merkel sich vermehrt direkt mit Betroffenen der Entscheidungen, wie zuletzt mit Eltern, trifft und deren Nöte wahrnimmt, sollte das Gebot der Stunde sein. Es vermittelt den Eindruck, die auferlegte Last des anderen durch das Zuhören zu teilen. Emotionen, die Unmut begründen und Ängste transportieren, dürfen nicht als Störfaktoren im Kampf gegen die Pandemie betrachtet werden, sie gehören vielmehr dazu. Denn wer sich unverstanden wähnt, trägt die Maßnahmen nur unentschlossen mit.

Darüber hinaus sei die längst überfällige Aufwertung der Kultur empfohlen. Indem man Kinos und Theater schloss, zwang man die Menschen auch in eine intellektuelle und emotionale Isolation. Verkannt wurde, dass allen voran jene Orte der Muse Geburtsstätten für das Mitleid sind. Gotthold Ephraim Lessing hob beispielsweise schon früh die Bedeutung des ernsten Schauspiels für die Kultivierung von Mitgefühl hervor. So solle die Tragödie „unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns […] so weit fühlbar machen, dass uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren“ kann.

„Die Gebote der Vernunft sollten durch Einsicht und
emotionale Ergriffenheit gleichermaßen verinnerlicht werden“

Künstlerische Arbeit gründet auf dem Prinzip der Immersion. Geschichten ziehen uns in den Bann. Vordergründig eröffnen sie Refugien vor der Realität, genauer betrachtet bewirken sie aber das Gegenteil. Sie schärfen unser Sensorium für die Wirklichkeit. Sie lassen uns mitunter jene dunklen Schicksalsschläge erfahren, die wir selbst noch gar nicht kennen. In der Gesellschaft also einen von Empathie getragenen Zusammenhalt zu stiften, setzt unweigerlich voraus, die Hallen der Kultur wieder zu öffnen und uns aus unserer Corona-Ego-Blase herausholen.

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Übrigens lohnt an dieser Stelle auch ein kleiner kulturgeschichtlicher Exkurs, aus dem wir Lehren für die Gegenwart ziehen können. Nachdem die Aufklärer den Homo rationalis als Ideal auserkoren hatten, dauerte es nicht lange, bis sich eine kritische Bewegung formierte. Sie lehnte nicht die Doktrin der Vernunft ab, sah aber die Gefahr einer unbotmäßigen Konstruktion des Menschen, die dessen umfänglichen Bedürfnissen nicht gerecht werden konnte. Die Rede ist von den VertreterInnen der Empfindsamkeit. Für sie ging die Entwicklung zu einer integren Persönlichkeit zum einen auf die Lehre, zum anderen auf gezielte Rührung zurück. Die Gebote der Vernunft sollten durch Einsicht und emotionale Ergriffenheit gleichermaßen verinnerlicht werden. Und zwar stets mit tiefer Inbrunst! Denn nichts war den naturverbundenen AutorInnen wie Sophie von La Roche oder Matthias Claudius so fremd, wie das „Empfindeln“, sprich: die Vortäuschung von Aufrichtigkeit.

Bürger wollen ernstgenommen werden

Es kann der akut schwierigen Gemengelage demnach nicht Rechnung tragen, sich als PolitikerIn leerer Phrasen zu bedienen. Das „Mitnehmen“ und „Ernstnehmen“ der „besorgten“ BürgerInnen zeugt eher von eintrainierten Floskeln denn von echter Aufmerksamkeit. Neben dem medizinischen Gefecht gegen den Erreger könnte letztlich der Kampf gegen die Kälte und bisweilen Verzweiflung, die seine Überwindung geschaffen hat, die zweite große Herausforderung werden. Diese dürfte uns noch lange beschäftigen. Inmitten von Daten gilt es nun mehr denn je, jeden Einzelnen zu sehen. Eben diese Wende macht uns menschlich und zumindest gegen die sozialen Verheerungen von Corona ein Stück weit immun.

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