Frau Lukas, Religiöses in die Therapie einfließen zu lassen, gilt als psychotherapeutischer Kunstfehler. Gilt das auch für die Logotherapie Viktor Frankls?
Frankl schrieb in seinem Buch "Der unbewusste Gott": "Für die Logotherapie kann Religion nur ein Gegenstand sein - nicht aber ein Standort. Mag nun die Religion für die Logotherapie auch noch so sehr ,nur' ein Gegenstand sein..., so liegt sie ihr doch zumindest sehr am Herzen..." Tatsächlich war es Frankls tiefstes Anliegen, mit seinen Konzepten "das Zimmer der Immanenz einzurichten, aber die Tür zur Transzendenz offen zu lassen". Wer immer Rat und Hilfe sucht in der Logotherapie, findet die Tür zu seinem persönlichen Glauben offen. Und wenn es sein Wunsch ist, über Inhalte daraus zu sprechen, wird ihm - ohne die theologische Seelsorge konkurrenzieren zu wollen - volles Verständnis entgegengebracht werden.
"Tatsächlich war es Frankls tiefstes Anliegen,
mit seinen Konzepten ,das Zimmer der Immanenz
einzurichten, aber die Tür zur Transzendenz offen zu lassen'."
Ist die Logotherapie demnach kompatibler mit dem christlichen Glauben als andere Schulen der Psychotherapie?
Da die Logotherapie von einem Letztsinn ausgeht, der alles Sein umfasst und einbegreift, ist sie kompatibler mit jeder Weltanschauung, die von einer analogen Prämisse ausgeht.
Viktor Frankl schrieb: "Entweder der Mensch versteht sich als Ebenbild Gottes - oder er missrät zum Zerrbild seiner selbst." Wie religiös - oder gar biblisch geprägt - war Frankls Blick auf den Menschen?
Frankls Menschenbild kann man insofern als "biblisch" bezeichnen, als er das Mysterium des "uns eingehauchten Geistes" unangetastet stehen ließ und geistige Phänomene nicht allein auf Gehirnfunktionen oder psychische Mechanismen zurückführte. Zu der spezifisch menschlichen Geistigkeit zählte er unsere Willensfreiheit und Verantwortung, unsere Sehnsucht nach Sinn - einschließlich "letztem Sinn" -, unsere Schöpfungskraft und unsere unverlierbare Würde.
Sehen Sie selbst Religion als Sinnquelle, Ressource und Resilienzfaktor?
Wenn es sich um ein gesundes Urvertrauen handelt, möchte ich die Frage bejahen. Leider gibt es auch pathologische Gottesbilder und verzerrte religiöse Vorstellungen, die zu widersinnigen Ansichten verleiten.
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