Selbsthingabe

Die Stärke, die die Welt rettet

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigt derzeit, dass Stärke in der Selbsthingabe besteht und nicht in der Selbstermächtigung. Die Konfrontation mit solcher Stärke führt die eigene Schwäche vor Augen – es gibt nur zwei Wege, damit umzugehen.
Ukraine-Konflikt - Wolodymyr Selenskyj
Foto: dpa | Stärke durch Menschlichkeit: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigt auch beim Besuch von Kriegsversehrten, wie es geht.

Eigentlich verkörpert der russische Präsident Wladimir Putin all das, was aus menschlicher Sicht so oft unter Stärke verstanden wird: Er herrscht über das flächenmäßig größte Land der Erde, er befiehlt eine Armee von rund 850 000 Soldaten und besitzt einen riesigen Luxuspalast am Schwarzen Meer. Seine vermeintliche Stärke stellt der 69-Jährige auch immer wieder auf der Weltbühne zur Schau: Auf den Bildern von seinem Sibirien-Urlaub, die auch aus jedem möglichen Outdoor-Magazin stammen könnten, zeigt er sich mit einem großen Fisch an der Angel, den er gefangen haben soll, er präsentiert sich beim Schwimmen in einem angeblich 17 Grad warmem See und reitet vor wilder Kulisse auf einem Pferd – natürlich immer oberkörperfrei, als wollte er demonstrieren, wie abgehärtet er ist, dass er sich von nichts abschrecken lässt und dass er im Kampf ums nackte Überleben locker gewinnen würde.

Mit dem Aufbau einer Drohkulisse von 150 000 Soldaten, die die mächtigsten Staats- und Regierungschefs der EU ankriechen und betteln ließ, er möge doch bitte nichts Blödes anstellen, erweckte er den Anschein, dass alle ihm untergeben sind, dass alle sich nach ihm richten und gehorchen. Und mit dem Überrollen eines anderen Landes mit seinen Panzern zeigt er letztlich, dass er die Macht hat, das Weltgeschehen nach seinem Willen zu prägen – ohne dass jemand ihn wirklich daran hindern könnte.

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Das Maß aller Dinge scheint für ihn der Ausbau der eigenen Macht zu sein, wie er in seiner aggressiven Rede vor dem Einmarsch in die Ukraine recht deutlich offenlegte: „Das Problem liegt darin, dass das angrenzende Gebiet, das historisch zu uns gehört, komplett von außen kontrolliert wird. … Hierbei wird eine Politik betrieben, die Russland zurückhalten soll.“

Es ist ein Verständnis von Stärke, das auf dem Instinkt des Selbsterhalts aufbaut. Es ist ein Verständnis von Stärke, das dazu führt, erst an sich selber zu denken und in dem Glauben resultiert, je mehr Macht man besitze, desto besser sei die eigene Existenz gesichert. Es ist der Glaube, der seit der Ermutigung der Schlange, vom verbotenen Baum zu essen, tief im menschlichen Herzen verwurzelt ist und immer wieder aus der Dunkelheit unseres Herzens ans Licht der Wahrheit kommt: Nicht nur bei den Herrschern der Nationen dieser Welt, die das Schicksal ganzer Völker bestimmen, sondern bei jedem einzelnen Menschen im Alltag.

„Wer keine Lösung für die eigene Schuld kennt, beschuldigt letztlich den,
der ihm seine Unzulänglichkeit offenbart hat. Und endet in Aggression und Gewalt“

Er zeigt sich, wenn man statt sich über die gute Idee des Kollegen zu freuen, neidisch ist, dass man nicht selber darauf gekommen ist. Er zeigt sich, wenn wir statt zu bedauern, dass jemand Ärger bekommt, wir uns freuen, dass man so vielleicht selber besser dasteht. Er zeigt sich, wenn wir in einer Situation, in der wir etwas anderes möchten als der Partner, nicht den Kompromiss suchen, sondern den eigenen Willen durchsetzen. Er zeigt sich, wenn wir über die Fehler anderer sprechen, um von unseren eigenen abzulenken. Und obwohl wir selbst oft so leben, bewundern wir doch eigentlich eine ganz andere Art von Stärke.

Wir bewundern Personen, die eigene Bedürfnisse zurückstellen, um anderen Menschen zu helfen. Personen, die auch mal auf den eigenen Schlaf verzichten, weil sie wissen, dass sie gerade von anderen gebraucht werden. Wir bewundern Personen, die einstehen für das, woran sie glauben, selbst wenn sie dafür bedroht und eingeschüchtert werden. Die für die Freiheit und Selbstbestimmung anderer eintreten und sich nicht einfach einem totalitären System beugen. Die zeigen, dass es nicht egal ist, was wir tun und wie wir leben, sondern, dass es etwas Gutes und Richtiges gibt, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Personen, die sich für die Freiheit und das Leben anderer einsetzen, selbst wenn es sie selber das Leben kostet.

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Die Art von Stärke, wie sie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj aktuell verkörpert und damit zum Helden vieler geworden ist. Während Putin sich im Bunker verschanzt aus Angst um sein Leben, bietet Selenskyj ihm die Stirn, weil er sich selbst nicht als das Maß aller Dinge sieht, sondern an etwas Größeres glaubt, das im Zweifel sogar das eigene Leben wert ist: An die Freiheit der Menschen. Einen Einblick in diese Mentalität gewährte der 44-Jährige im Interview mit der „Zeit“: „Für die Freiheit muss man kämpfen. Immer. Es spielt keine Rolle, wer ich war oder wer ich bin. Du musst frei sein, damit deine Kinder und deine Verwandten frei sind.“

Statt sich von den Drohungen des russischen Präsidenten einschüchtern zu lassen, kämpft er umso stärker für die Unabhängigkeit seines Landes, statt sich selbst in Sicherheit zu bringen, ringt er um das Überleben seines Volkes und riskiert damit sein eigenes Leben. Nun spielt er nicht mehr den „Diener des Volkes“, er ist es längst geworden. Mit dem Satz „Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Munition“ hat er ein Denken offenbart, das an Werte glaubt, für die es wert ist, Opfer zu bringen, ein Denken, das der westlichen Welt in den letzten Jahren abhanden gekommen ist und doch aktuell auf starke Bewunderung stößt.

Die Selbsterhöhung entlarvt Putin

Dieses radikale Prinzip der Selbsthingabe hat einer bis zur Vollendung vorgelebt: Jesus. Er, der Engelsheere hatte, steigt hinab in den Dreck der Welt. Er, der über alles verfügen könnte, lässt den Menschen doch die Freiheit, sich von ihm abzuwenden. Er, der alle Macht der Welt hatte, lässt sich von der Welt erniedrigen. Durch seine Hingabe am Kreuz, mit der er Schuld in Unschuld verwandelt, Tod in Leben, verhöhnt er unser Verständnis von Stärke und zeigt, dass sie doch eigentlich Schwäche und unser Verständnis von Schwäche doch eigentlich Stärke ist. Dass letztendlich nur die Selbsthingabe und Liebe die Macht haben, die Menschen für sich zu gewinnen, dass Gewalt und Zwang aber die Menschen von einem entfernen. Denn die Selbstermächtigung ist unser erster Instinkt und zeigt somit, dass wir nur Getriebene unserer selbst sind, die Selbsthingabe aber erfordert Überwindung des menschlichen Instinkts, deswegen zeugt sie von Kraft. Deswegen treibt Putin mit seiner Stärkedemonstration durch Selbsterhöhung einen Keil zwischen sich und die Weltbevölkerung, Selenskyj hingegen fliegen durch seine Selbstlosigkeit die Herzen förmlich zu.

Die Konfrontation mit der wahren Stärke führt letztlich immer zur Erkenntnis der eigenen Schwäche. Die Konfrontation mit der Demut des anderen spiegelt den eigenen Stolz. Die Konfrontation mit dem Mut des anderen spiegelt die eigene Angst. Die Konfrontation mit der Selbstlosigkeit des anderen spiegelt den eigenen Egoismus. Die Erkenntnis der eigenen Schwäche beschämt uns, sie zeigt, dass wir nicht so vollkommen sind, wie wir es gerne wären. Diese Scham führt immer in zwei Richtungen: Entweder zur Demut oder zum verletzten Stolz.

Unzulänglicher Umgang mit eigener Scham führt zu Aggression und Gewalt

Letztlich kann man die Konfrontation mit der eigenen Schwachheit und Sündhaftigkeit aus eigener Kraft nicht überstehen: Denn wie könnte man die eigene Schuld beseitigen? Es braucht einen anderen, der uns erlöst, es braucht das Kreuz. Doch wer keine Lösung für die eigene Schuld kennt, beschuldigt letztlich den, der ihm seine Unzulänglichkeit offenbart hat. Und endet in Aggression und Gewalt. Das zeigt sich auch unter dem Kreuz: Während die Soldaten, die den Gekreuzigten bewachen, nach der Spaltung des Tempelvorhangs erkennen, dass sie Gottes Sohn gekreuzigt haben und Bedauern darüber ausdrücken, gehen andere noch vorüber und sagen: „Wenn du Gottes Sohn bist, hilf dir selbst, und steig herab vom Kreuz!“ (Mt, 27, 40) Die Konfrontation mit der eigenen Schwäche und Sündhaftigkeit führt entweder weg vom Kreuz oder hin zu ihm.

Auch Selenskyj spiegelt durch seine Stärke die Schwäche Putins wider – die Frage bleibt, ob die Erkenntnis zur Umkehr führt oder zu noch stärkerem gekränktem Stolz, der letztlich nur Zerstörung hervorbringt. Nur der erste Weg führt zu Frieden in der Welt. Der erste Weg führt durch das Kreuz.

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Veronika Wetzel Kreuz Weltbevölkerung Wladimir Wladimirowitsch Putin Wolodymyr Selenskyj

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