Vor hundert Jahren ging das alte Europa unter. Es versank und ertrank in jenem Meer aus Blut und Tränen, das der bis dahin sinnloseste aller sinnlosen Kriege, der Erste Weltkrieg, verursacht hatte. Dieses Versinken und Ertrinken auf den Schlachtfeldern und im Hinterland ist vielfach quantifiziert worden, doch hat es mehr als quantitative Dimensionen. Mit dem Sterben vor und hinter der Front erstarb auch die Weltstellung der europäischen Großmächte. Der Kriegseinstritt der Vereinigten Staaten von Amerika ab April 1917 markiert eine Zeitenwende: Auch wenn die USA in den darauffolgenden Jahrzehnten zwischen Isolationismus und missionarischer Weltpolizistenrolle schwanken sollten, ist damit die dominante Stellung der Europäer in der Weltpolitik gebrochen. Washington kann seither in Europa Kriege führen, entscheiden und beenden.
Zugleich mutierte mit der Februarrevolution in Petrograd und der Abdankung Zar Nikolaus II. im März 1917 die östlichste europäische Großmacht. Die im mörderischen Weltkrieg ineinander verbissenen Mächte ahnten die Tragweite der rasch aufeinander folgenden Ereignisse nicht: Weder die Briten, die die provisorische Regierung in Petrograd bedrängten, den selbstmörderischen Krieg fortzusetzen, noch die Deutschen, die Lenins Rückkehr aus der Schweiz logistisch ermöglichten und finanzierten, um Unruhen in Russland auszulösen und so den Kriegsgegner zu schwächen. Schneller erfolgte die Rache der Geschichte für die Briten: Die Fortsetzung des Kriegs diskreditierte die Kerenski-Regierung in Russland und bereitete den Boden für den zweiten Teil der Revolution: für Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Beim deutschen Engagement für Lenins Heimreise schien das Risiko zunächst ganz auf der Seite des Bolschewiken zu liegen: Tatsächlich zögerte er, sich von Russlands Kriegsgegner helfen zu lassen, verschleierte und bestritt später die finanziellen Zuwendungen, die das kaiserliche Berlin über Mittelsmänner in die bolschewistische Revolution investierte.
Die britische Historikerin und Russland-Kennerin Catherine Merridale schrieb über das Russland des Jahres 1917: „Abgesehen von Frieden und Brot gab es eines, wonach sich die Menschen am meisten sehnten: nach etwas Neuem, einem Abschied von den alten Sitten, den Lügen, der Regierung durch Fremde in teuren Anzügen.“ Und so fegte die Geschichte die provisorische Regierung, die Frieden und Brot verweigerte, weil sie den fremden Krieg fortzusetzen gedachte, hinweg – und machte Platz für etwas radikal, ja schauerlich Neues. Die Russen sehnten sich nach Frieden und Brot, die Oberste Heeresleitung in Berlin nach dem Ende der Kämpfe an der Ostfront. Lenin versprach, beider Wünsche zu erfüllen: „Jeder Tag des Krieges bereichert die Finanz- und Industriebourgeoisie und ruiniert und erschöpft die Kräfte des Proletariats“, begründete er sein Eintreten für den Frieden. Und: „In Russland bringt die Verlängerung des Krieges überdies größte Gefahren für die Errungenschaften der Revolution.“
Was Lenin im Herbst 1917 gelang, war weniger revolutionär als die Februarrevolution zuvor, war ein Staatsstreich von Berufsrevolutionären gegen eine Regierung, der die Kriegsmüdigkeit des eigenen Volkes weniger gewichtig schien als die Kriegsziele der West-Alliierten. Wirklich revolutionär – das Unterste nach Oben kehrend, alle Werte umwertend und alle Ordnung pervertierend – war, was der Oktoberrevolution folgte. Nicht zufällig und bloß faktisch, sondern mit logischer Notwendigkeit folgte ihr das große Blutbad: Lenin brauchte Frieden nach außen, um Krieg im Inneren führen zu können. Insofern hat sich – kurzfristig – die Erwartung der Obersten Heeresleitung in Berlin erfüllt. „Unsere Partei ist für den Bürgerkrieg“, sagte Leo Trotzki. Lenin rief im April 1918 aus: „Jetzt ist es für uns an der Zeit, einen unerbittlichen, gnadenlosen Kampf gegen die kleinen Grundbesitzer und Kleineigentümer zu führen.“ Das war keineswegs metaphorisch gemeint: „Es geht hier sehr wohl um einen Krieg“, insistierte er. „Es lebe der Bürgerkrieg!“ Lenin sah sich nicht aktuell, sondern grundsätzlich und stets im Kampf.
Bereits 1902 hatte er geschrieben: „Wir sind von allen Seiten von Feinden umgeben und müssen fast stets unter ihrem Feuer marschieren.“ Damals mag er an den Zaren, dessen Hof und den Adel gedacht haben, später an Großgrundbesitzer und Spekulanten, dann an Kleineigentümer und Bauern, an jeden, der selbst denken konnte und wollte. Irgendwann dachte Josef Stalin, Lenins legitimer Erbe, dann an die alten Weggefährten, an die Miteigentümer der Revolution, an die Freunde Lenins.
Bereits 1918 schrieb Lenin in einem Brief: „Die Zeichen der Zeit stehen auf Totalkrieg. In seiner Energie und als Ausdruck der Masse ist der gegen die Konterrevolutionäre gerichtete Terror unbedingt zu unterstützen.“ In einem anderen Brief forderte er, jeden Bauernaufstand „mit aller Härte niederzuschlagen“. Von „Endkampf“ ist da die Rede, und der Brief endete mit „P. S.: Sucht Euch härtere Leute!“ Im Juni 1918 wurde die Todesstrafe wieder eingeführt. Im Herbst wurden in nur zwei Monaten 15 000 Menschen hingerichtet. Bald folterten tausende, bald zehntausende, schließlich hunderttausende Tschekisten in Kellern und Internierungslagern. Der Bürgerkrieg war ein Hochfest für Sadisten: weiße Offiziere wurden gefesselt in Hochöfen geworfen, Bürgerlichen wurden Hände und Genitalien abgeschnitten. Lenin jubelte über diese „soziale Revanche“, pries den „gerechten Bürgerkrieg“. Gefoltert und ermordet wurden Monarchisten wie Anarchisten, Arbeiter wie Bauern, Fahnenflüchtige wie Meuterer, Kosaken wie „Volksfeinde“. Jeder konnte „Volksfeind“ sein – unabhängig von Nationalität, Klassen- und Parteizugehörigkeit. Jeder Gegner war Volksfeind, Saboteur, Konterrevolutionär, Blutsauger, Komplize der Bourgeoisie oder Spekulant. Im Reich der Lüge verlieren die Begriffe zuerst ihre Wahrheit und dann ihre Bedeutung.
Lenin war stolz, „die bürgerliche Justiz, das Machtinstrument der herrschenden Klassen, hinweggefegt“ zu haben. Seine Vorstellung von Justiz beschrieb er in einem Brief so: „auf der Stelle eine Kugel in den Kopf“. Der Kommunismus rückt nicht graduell vom Rechtsstaat ab – er verwirft ihn prinzipiell. All das Foltern und Morden, das Aburteilen und Verleumden war nicht zufällig, war nicht Mittel zum Zweck. Das Blutbad des roten Terrors hatte eine kultische, pervers pseudoreligiöse Dimension: Lenin, Stalin, Mao und all die anderen roten Schlächter des 20. Jahrhunderts (und natürlich ihr brauner Cousin Adolf Hitler) brachten ihrer Ideologie die größten Menschenopfer aller Zeiten dar. Hatte der göttliche Heiland die Menschheit mit seinem eigenen Blut erlöst und darin des Menschen wahre Würde offenbar gemacht, so tauchte Lenin sein Volk in ein mörderisches Blutbad, um es dieser Würde wieder zu berauben. Er war nicht angetreten, das soziale, wirtschaftliche und politische System zu verändern, sondern einen neuen Menschen zu schaffen. Seine Ambition war im wahrsten Sinn des Wortes totalitär – die ganze Wirklichkeit von Mensch und Gesellschaft erfassend und revolutionierend.
Eben deshalb bricht die Machtübernahme Lenins Russland aus Europa heraus. Mit der bolschewistischen Revolution endet die europäische Geschichte Russlands. Europas Geschichte ist nämlich geprägt vom Ringen um die Person, ihre Freiheit und Würde, ihre Rechte und ihre Bestimmung. Lenin tritt die Menschenrechte und die Personenwürde mit Füßen, ja er leugnet sie schlechthin. Träger von Rechten, von Würde und Bestimmung ist für ihn ausschließlich die Partei in ihrem fiktiven Dienst an der Diktatur des Proletariats.
Im Ringen um Freiheit war das Abendland geprägt von der Teilung und dem Ausgleich der Gewalten: Jesus unterscheidet – ein politiktheoretisches Novum für seine Zeit – „was des Kaisers ist“ von dem „was Gottes ist“. Er setzt damit dem Staat und der Politik eine Grenze: Was Gottes ist, hat der Mensch nur Gott zu geben – sein Herz vor allem, seine grenzenlose Loyalität, sein unbedingtes Vertrauen, seine kindliche Liebe. Die Unterscheidung, die Jesus trifft, entsakralisiert die Politik und entzieht die Religion jeder politischen Instrumentalisierung. Diese Unterscheidung, die weder der alte Orient noch das Imperium Romanum zur Zeit Jesu kannten, prägte fortan das Abendland: Der Investiturstreit des Mittelalters war nur ein Grenzstreit, kein Grundsatzstreit. Papst und Kaiser kannten die Unterscheidung von „gladius spiritualis“ und „gladius temporalis“, von geistlicher und weltlicher Gewalt, von Sünde und Straftat, von Häresie und Verbrechen.
Lenin hebt diese Gewaltenteilung auf: Der Häretiker wider die kommunistische Ideologie ist zugleich Verbrecher, das kommunistische Dogma ist nicht nur als Gesetz zu befolgen, sondern bedingungslos zu glauben und zu bekennen. Der Kommunismus beansprucht nicht nur, ein alternatives politisch-ökonomisches Modell zu sein, sondern den Sinn der Geschichte zu erfüllen, die finale Antwort auf das Sehnen und Hoffen der Menschen zu sein. Der kommunistische Staat verlangt vom Menschen nicht nur die Mitfeier seiner Rituale und Gehorsam gegenüber seinen Gesetzen, sondern Glaubensgehorsam und öffentliches Bekenntnis.
Ein Beispiel dafür lieferten die rituellen Glaubensbekenntnisse auf Parteitagen und Jubelfeiern. Mit todernsten Minen lauschten etwa die Zuhörer dem SED-Parteiideologen Hermann Axen, als er 1980 zum Jahrestag der Oktoberrevolution in Berlin bekannte, diese sei „das wichtigste Ereignis der Menschheitsgeschichte“ und „die größte Befreiungstat der Geschichte“, denn sie leite „die neue Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus ein“, ja mit der Oktoberrevolution „wurden die Volksmassen zu Herren der Geschichte“. Wer solchen Schwachsinn nicht mit- und nachbeten wollte, musste aus kommunistischer Sicht ein Verrückter oder ein Verbrecher sein – musste also weggesperrt werden in die Psychiatrie, ins Gefängnis oder in den Gulag. Den messianischen, pseudo-religiösen Charakter des Bolschewismus haben einige seiner Zeitgenossen durchschaut. So schrieb Paneuropa-Gründer Richard Coudenhove-Kalergi in seinem Büchlein „Stalin & Co.“ 1931, der Bolschewismus bilde Kirche, Staat und Trust zugleich: „Der Kommunismus ist eine Religion in Gestalt einer Partei. Die dritte Internationale ist eine Weltkirche. Die kommunistische Partei Russlands ist ein moderner Ritterorden. Russland ist ein Kirchenstaat. Diese neue Religion hat ihre Bibel: das alte Testament von Marx und das neue Testament von Lenin. Sie hat ihren Papst, ihre Kardinäle und Kirchenväter, ihre Theologen, Konzilien und Ketzergerichte, ihren Index und ihre Inquisition, ihre Zeremonien und ihre Dogmen, ihre Missionare und ihre Märtyrer, ihren Kult, ihre Symbole und ihre Organisation.“ Coudenhove-Kalergi sah auch die Grenze dieser Parallele: „Sie hat ihre eigene Ethik, die befiehlt, für den neuen Glauben nicht nur zu leiden, sondern auch leiden zu machen; nicht nur zu sterben, sondern auch zu töten; mit allen Mitteln zu versuchen, das große Ziel zu erreichen: die ganze Welt der neuen Kirche und dem neuen Glauben zu unterwerfen.“
Tatsächlich ging es Lenin um eine totale Herrschaft in jeder Dimension: nicht um ein Land, sondern um die ganze Welt, nicht um die Mehrheit, sondern um die ganze Macht, nicht um Dominanz, sondern um Alleinherrschaft. Bereits 1917 bekräftigte er, seine Partei sei „in jedem Augenblick bereit, die gesamte Macht zu übernehmen“. Die gesamte Macht, denn Lenin akzeptierte keine Gewaltenteilung: weder zwischen Ständen noch zwischen Exekutive, Judikative und Legislative. Er akzeptierte auch keine Gewaltenteilung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt, denn er wollte den ganzen Menschen beherrschen, umformen, neu schaffen. Lenin hatte nicht vor, die „Freiheit für die neuen Auffassungen neben den alten zu fordern, sondern eine Ersetzung der alten durch neue“ zu erzwingen. Er wollte nicht Zar sein neben der Kirche, auch nicht (wie Peter der Große) über der Kirche – sondern Zar und Patriarch, denn in seiner kommunistischen Partei sah er den neuen Staat und die einzige alleinseligmachende Kirche.
Darum ist es nicht Zufall, sondern logische Notwendigkeit, dass mit der bolschewistischen Revolution die grausamste Verfolgung der christlichen Kirchen einsetzte. 1917 zählte Russland 160 Millionen Einwohner, von denen etwa 70 Prozent der russischen Orthodoxie angehörten; jeweils rund neun Prozent waren katholisch beziehungsweise muslimisch, fünf Prozent protestantisch und 3,2 Prozent Juden. Lenin hatte die Kirche von Anfang an im Visier: Bereits 1917 erließ er Dekrete über Grund und Boden, über die Verstaatlichung aller Klöster, über die Verstaatlichung aller Schulen, über die Einführung der obligatorischen Zivilehe und über die Eheschließung sowie die Deklaration über die Rechte der Völker Russlands – alles mit dem Ziel, der Orthodoxie sowohl ihr Eigentum als auch die privilegierte Stellung in der Gesellschaft zu nehmen. Am 23. Januar 1918 entzog ein Dekret der Volkskommissare über die Trennung von Staat und Kirche allen Religionsgemeinschaften nicht nur faktisch ihr Eigentum, sondern auch das Recht, überhaupt Eigentum zu besitzen – und unterwarf sie der totalen Kontrolle des Staates.
Am 1. Februar 1918 verhängte der russisch-orthodoxe Patriarch Tichon das Anathema über die Kommunisten. In seinem Hirtenbrief schrieb er hellsichtig: „Die öffentlichen und heimlichen Feinde haben eine Verfolgung gegen die Wahrheit Christi begonnen und sind bestrebt, das Werk Christi zu vernichten“. Der neue Dämon war nicht bereit, andere Götter neben sich zu dulden. „Wir müssen die Religion bekämpfen, das ist das ABC des gesamten Materialismus“, hatte Lenin einst geschrieben. Die Diktatur der Lüge erträgt keine Stimme der Wahrheit, denn der Mörder von Anbeginn ist zugleich der Vater der Lüge.