Seit 2017 sind Orgelmusik und Orgelbau von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe anerkannt. Nun wählten die Landesmusikräte Deutschlands vor einigen Monaten die Orgel zum "Instrument des Jahres 2021". Solche und ähnliche Titel werden irrigerweise oft als Zeichen der Wertschätzung und Förderung gesehen, dabei sind sie doch viel mehr mitleidige Gesten einer Gesellschaft, die sich schon längst von der inhaltlichen Bedeutung der Orgel und ihrer Rolle im gesellschaftlichen Leben verabschiedet hat. So wird diesem Instrument ein musealer Status zugewiesen, auf dass niemand auf die Idee käme, die ab und an mit Subventionen garnierte Nische auch nur verlassen zu wollen, um die prinzipielle Bedeutung der Orgel für die abendländische Kultur zu betonen.
Solche Titel sind auch in den Redaktionsstuben Deutschlands höchstens eine Rücklage für journalistische Flauteperioden. Dabei schlägt auch oft die Sternstunde jener Vermittler, deren Vermittlung hauptsächlich in der Anbiederung an den Zeitgeist und einer vermeintlichen Auflockerung der Inhalte besteht, und die dann zielsicher all jene Vorurteile und Klischees hervorkramen, die sie eigentlich zu bekämpfen vorgeben. Dabei gibt es zwei Tendenzen: einerseits die Orgel als rekordverdächtiges Kuriosum ("Wusstest Du, dass die größte Pfeife ?"), und andererseits die Orgelwelt als spleenige, aber doch liebenswerte Gemeinschaft von Nerds, die allerdings viel cooler und lockerer sind als man gemeinhin vermuten sollte (wie z.B. im kürzlich in der "Zeit" erschienenen Artikel "Wir crazy Sonderlinge").
Mit der europäischen Geschichte verknüpft
Inhaltlich sind die Forderungen aber fast immer gleich: man müsse solch einen Titel dazu nutzen, die Orgel der vielzitierten "breiteren Öffentlichkeit" zugänglich zu machen. Ganz nebenbei stellt man fest, dass noch immer zu viele Menschen die Orgel mit der Kirche (Stichwort: "staubig") assoziieren, was man natürlich durch besondere Projekte bekämpfen müsse um den Status der Orgel, als selbstständiges Konzertinstrument zu betonen.
Dabei hätte die Orgel all das gar nicht nötig, ist sie doch weit entfernt von dem ihr heutzutage zuerkannten Nischenstatus. Sie ist nämlich nichts weniger als ein kulturmorphologischer Spiegel des Abendlandes, ein Instrument, das wie kein anderes mit der europäischen Geschichte verknüpft ist, das eine Vielzahl von Veränderungen durchlief, wobei es im Kern immer es selbst blieb, und das wie kein anderes Instrument der "faustischen Seele" des Abendlandes Ausdruck verlieh.
„Die Seele der abendländischen Orgel ist eine christliche“
Während die Geschichte der Orgel zurück bis in die Antike reicht, ist es erst im Abendland, dass die Orgel zu großer Blüte und Bedeutung gelangte. So wie die Wurzel der abendländischen Kultur im (spezifisch westlichen) Christentum liegt, so tut es auch der Ursprung der Orgel. Die Seele der abendländischen Orgel ist eine christliche. Die schrittweise Säkularisierung der Orgel setzte großflächig erst nach der Französischen Revolution ein und dauert bis heute fort. Mutete dies zunächst befreiend an, so handelt es sich doch um einen Verfallsprozess. Im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entstand zwar eine Reihe hervorragender weltlicher Musik für die Orgel, doch werden selbst die größten Liebhaber dieser Werke zugeben, dass der Weltgeist jener Zeit eher im bürgerlichen Konzertsaal beheimatet war.
Im Konkurrenzkampf mit den Paradepferdchen der bürgerlichen Musikkultur, Violine und Klavier, musste die Orgel den Kürzeren ziehen, denn die abendländische Orgel ist ihrem Naturell nach sakral und aristokratisch und steht damit der säkular-bürgerlichen Musikkultur diametral gegenüber. Die Abkehr von diesem Naturell, die sich anbahnende Rückkehr zum Status eines Zirkusinstruments wie in der Antike, zeichnete sich jedoch bereits ab: Kinoorgeln, Wurlitzer, Theaterorgeln in Pizzarestaurants all dies mögen unterhaltsame Instrumente sein, doch mit der transzendenten Seele der abendländischen Orgel sind sie nur noch bedingt verwandt. Während der Jesuitenpater und Universalgelehrte Athanasius Kircher in seiner 1650 erschienenen Musurgia Universalis die Orgel in einer wunderschönen Analogie als Welt, Gott als ihren Organisten, und die Schöpfungsgeschichte als eine Reihe von Präludien beschrieb, bei denen jedes gezogene Register einem Schöpfungstag entsprach, so wurde die Orgel im 20. Jahrhundert assoziativ zum klischeebehafteten Instrument von karikaturesken Bösewichtern des Films.
Musikalische Verballhornung der Liturgie
Wie der Großteil der Klassikwelt steckt auch die Orgel gegenwärtig in einer rezeptionstechnischen Zwickmühle, denn der akademische Kulturbetrieb kann sich ihre Nutzung in einer bald vollständig säkularisierten Welt fast ausschließlich konzertant vorstellen, insbesondere wenn es um die Nutzung von Stilkopien geht. Moderne Universalorgeln werden zwar oft noch liturgisch gerechtfertigt, doch ein kurzer Blick auf den qualitativen Zustand der Liturgien genügt, um die Erwartungshaltungen einzudämmen, laufen die Kirchen doch zunehmend leer und wo sie es noch nicht tun, wird mit der (musikalischen) Verballhornung der Liturgien das Übrige dazu getan.
Die Orgel ist nicht irgendein "Instrument des Jahres", sie ist ein treuer Wegbegleiter unseres Kulturkreises. Treue Weggefährten speist man nicht mit billigen Titeln und Lobreden ab, das ist ihrer unwürdig, zumal daran immer Erwartungshaltungen geknüpft sind: da gibt es "Chancen, um neue Publikumsgruppen zu begeistern, "man müsste" nur die alten Denkmuster verlassen und kreative neue Wege finden, usw. All das ist natürlich Humbug, denn es sind nicht die Künstler (und schon gar nicht die Kulturpolitiker und Impresarios), die den kulturellen Zustand der Gesellschaft formen, sondern umgekehrt. Jeder verliehene Titel ist eine auferlegte Last, "mal was zu machen" und damit letztendlich nur ein kaschiertes Rückzugsgefecht zu führen. Es gleicht der entwürdigenden Scharade, zu der Menschen über 60, die ihr ganzes Leben gearbeitet hatten und plötzlich arbeitslos wurden, gezwungen werden, um über die verpflichtende Teilnahme an Kursen mit klangvollen Namen wie "Jetzt durchstarten" sich von Jungabsolventen erzählen zu lassen, sie müssten sich doch nur "neu erfinden", um am Arbeitsmarkt eine Chance zu bekommen.
Orgeln repräsentieren das westliche Christentum!
Auch wenn sich unsere künstlerische Kapazität heutzutage großteils in Kopien und Interpretationen erschöpft, so ist es noch immer die Mühe wert, jene seelische Verwandtschaft zwischen der Orgel und dem Geist des Abendlandes immer wieder zu betonen und zu pflegen. Nicht weil wir damit neue Publikumsgruppen erschließen, und auch nicht, weil irgendjemand entschieden hat, dass 2021 das Jahr ist, in dem wir alle mitleidig auf die Orgel wie auf einen lahmenden Gaul kurz vor dem Gnadenschuss blicken. Sondern weil die Orgel wie kein anderes Instrument das westliche Christentum und damit die tief verwurzelte Seele Europas repräsentiert, weil sie dem Reichtum unterschiedlicher und doch verbundener Kulturen in Europa Ausdruck verleiht, und weil zukünftige Generationen die Chance verdienen, mit diesem Schatz in Kontakt kommen zu können. Wir Organisten sind nicht "crazy Sonderlinge", wir sind Nachlassverwalter des Untergangs, und das ist eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe. Lasst uns "Nein" sagen zu scheinheiligen Titeln, rhetorischen Totenscheinen und Anbiederung, und stattdessen von der Orgel selbst lernen, den Blick immer auf das Wesentliche zu richten, auf Transzendenz, auf Schönheit, auf Gott! Lasst uns den Schatz des seelischen Gehalts der Orgel selbstbewusst schützen, pflegen und immer wieder neu erringen.
David Boos ist Organist, künstlerischer Leiter des Telemann-Veranstaltungsbüros in Magdeburg, sowie Produzent der Dokumentation "Der gotische Klang" über die Orgel in Soest-Ostönnen.
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