Die neueste Seuche

Was uns „die Zeichen“ sagen: Sinnsuche in den Zeiten von Corona

Das Jüngste Gericht endet am 12. Juli. Eigentlich. Denn Corona sorgt seit vergangenem Wochenende für den Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Rede ist von der monumentalen Installation „The Last Judgement Sculpture“ des britischen Bildhauers Anthony Caro (1924–2013), die zurzeit die Wandelhalle der Berliner Gemäldegalerie mit eschatologischer Erhabenheit füllt. Die 28 Skulpturen aus Steingut, Beton, Holz, Messing und Stahl dekorieren in distinguierter Düsternis ein Pandämonium der Endabrechnung allen Seins. Am Ende der imposanten Kreation flankieren je zwei Posaunen das einen Spalt weit geöffnete Himmelstor. In Abwandlung eines Wortes von Heinrich Heine, der dieses auf eine geladene Kanone bezog, kann den Betrachter das Gefühl ankommen, es gebe nichts Stilleres als die stummen Posaunen des Jüngsten Gerichts.

Die schweigenden Posaunen passen perfekt als Symbolik zum beklemmend-lautlosen Opferzug der neuesten Seuche durch ein ohnehin zutiefst verunsichertes Land in einer nicht minder verunsicherten, aber als aufgeklärt geltenden Welt. Was in früheren Jahrhunderten als „Tatpredigt“ Gottes gegolten und den Abstieg ins Kellergeschoss der Metaphysik, den Aberglauben, befördert hätte, muss bislang allerdings in ähnlich schicksalsergebener Demut ertragen werden. Öffentliche Abstandsappelle und einfachste Hygieneregeln sind angesagt, um das unsichtbare Unheil hinauszuzögern. Händewaschen heißt das Gebot der Stunde. Immerhin in Unschuld, also ungejagt von strafenden Furien, in deren Zuständigkeit einst das pestilenzische Vergeltungswerk für Verfehlungen der sündigenden Massen fiel. Die Reiter der Apokalypse sind ihrer Steigbügelhalter verlustig gegangen. Doch „die Zeichen“ bleiben.

Die Wiederkehr des Endzeit-Themas

Dass Natur sich in „Katastrophen“ ausdrückt, ist eine erst seit dem 19. Jahrhundert etablierte anthropozentrische Sicht, die im Gefolge der aktuellen Klimadebatte dem Endzeit-Thema – einst Domäne millenarischer Gruppen – in säkularen Bewegungen wie „Fridays for Future“ Eingang und Einfluss verschaffte. Verheerendes Naturgeschehen ist seit jeher das Grundreservoir, aus dem apokalyptische Volksfrömmigkeit die entsprechenden „Zeichen“ zieht: Überschwemmungen, Feuersbrünste, Vulkanausbrüche, Erdbeben ... Deren Einpassung in eine numinose Interpretationsmatrix sorgte für Ursachenerklärung und, noch wichtiger, Sinngebung: Wenn göttliche Intervention aufgrund menschlicher Regelverletzung erfolgte, erfuhr man Sanktion und Strafe zu Recht – mit der Option, vom sündigen Treiben hinfort mehr oder weniger (denn das Fleisch ist bekanntlich schwach) abzulassen.

Zu diesen „Zeichen“ zählten über Jahrhunderte die Seuchen, die mit Krankheit, Siechtum und Tod Länder und Völker überzogen – allen voran die Pest, die allein im 14. Jahrhundert ein Drittel der Bevölkerung Europas tötete: 25 Millionen Menschen. (Eine Schreckenszahl, die erst wieder – diesmal weltweit – mit der Spanischen Grippe 1918/20 erreicht wurde.) Probate Praktiken der Volksfrömmigkeit in den von der Seuche geschundenen Gegenden sollten die Hoffnungen auf Heil und Heilung nähren: Altäre, Kapellen, Kirchen zu Ehren von Schutzpatronen wurden errichtet, Messen und Wallfahrten hatten Hochkonjunktur. 1633 gelobten die Oberammergauer zur Abwehr des Schwarzen Todes, alle zehn Jahre eine Passion aufzuführen. Dieses Jahr stehen die 42. Passionsspiele an: inzwischen eine Großveranstaltung, die von Mai bis Oktober hunderttausende Besucher aus aller Welt erwartet – und deren Stattfinden nach fast vier Jahrhunderten wieder von einer Seuche bedroht wird.Doch während in den Endzeit-Projektionen der Klimabewegung die im kollektiven Gedächtnis tradierten und durch aktuelle Ereignisse immer wieder erneuerten Katastrophenbilder belebt und beschworen werden, bleibt eine apokalyptische Deutung der aktuellen, den Erdball umrasenden Viruspandemie aus. Werden bei der Bewertung der Klimakrise durchaus moralische Faktoren wie Habgier, Maßlosigkeit und Ignoranz (drei klassische Todsünden) thematisiert, wäre dies bei der Corona-Krise nur per Rückgriff auf nicht mehr vermittelbare religiöse Muster möglich.

Zudem birgt das profane Seuchengeschehen im Unterschied zum klimaaktivistischen Engagement kaum ein Potenzial irgendwelcher Sinnstiftung. Können die zeitfernen, imaginierten Untergangsszenarien immerhin eine Aura schicksalhafter Tragik generieren, lassen die Banalität leergekaufter Supermarktregale oder Fernsehbilder aus der Intensivstation derlei schwerlich entstehen. „Geisterspiele“ der Bundesliga, geschlossene Theater und Konzerthäuser, abgesperrte Electro-Clubs erhellen bestenfalls das gar nicht so überraschende Phänomen, dass der Weg von der „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Debord) zur „Gesellschaft des Debakels“ mit dem Übertragungsweg eines tückischen Krankheitserregers zusammenfällt. Brot ist hierzulande gottlob noch genug da – doch was ist mit den Spielen? Friedrich Nietzsches „letzter Mensch“ war da wohl doch zu zuversichtlich: „Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.“ Mit den „Lüstchen“ kann es nun ebenso problematisch werden wie mit der Gesundheit.

Gefährdete Weltreligion: Globalismus

Potenzielle „Zeichen“ werden erst dann zu solchen, wenn die dominierenden Diskursträger sie derart absegnen. So ist die öffentliche Erregtheit um das Klimathema Politik und Wirtschaft durchaus genehm, um eigene Intentionen und Ziele zu protegieren. Das Pandemiegeschehen birgt indes nicht nur verheerende Verheißungen für das gesamte soziale Gefüge und das, ja, nackte Leben jedes Einzelnen, sondern auch für die herrschende Weltreligion sui generis: den Globalismus. Dieser hat sich als Mitverursacher und entscheidender Katalysator für die wachsende Wirrsal im Gefolge der viralen Heimsuchung erwiesen. Folgen doch die infektiösen Strukturen auf ihrem Weg durch die Welt strikt der immer wieder propagierten Losung „No border, no nation!“. Grenzen, einst Ausweis und zentrales Element staatlicher Souveränität, zu schließen, geböte die Vernunft als erste Maßnahme. Doch selbst als Ultima Ratio wird ein solcher Schritt mit Unmut und Misstrauen betrachtet, als Gefahr, gegen die von Anfang an agitiert werden muss. Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Es geht nicht darum, dass wir uns in Europa abschotten.“ Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier sekundiert: „Die Freizügigkeit ist ein hohes Gut.“ Und die „Frankfurter Allgemeine“ sieht das Coronavirus als „eine Unebenheit, die niemand auf der Rechnung hatte“. Die Seuchenkrise zeige, „wie verletzlich die globalisierte Welt ist. Doch auch, wenn sie niemals perfekt sein wird: Es gilt, sie zu verteidigen.“ Der Kommentar schließt mit der frappierenden Erkenntnis: „Epidemien und Katastrophen gab es nämlich auch schon früher – nur war die Welt dafür lange nicht so gut gerüstet wie heute.“ Der positivistische Fortschrittsoptimismus, der aus diesem Diktum der Alternativlosigkeit spricht, erinnert an das von vertrauensseliger Wissenschaftsgläubigkeit durchtränkte Ende des 19. Jahrhunderts. Aber die finalen Anrichtungen der weltweiten Seuche entziehen sich seriösen Prognosen.

Seuchen und andere Natur-„Katastrophen“ gehören spätestens seit der Aufklärung zum Inventar des Absurden. Sie sind für das Leben der Menschen Sinn-los. Der Katechismus des Bistums von Agen (Frankreich) von 1677 beantwortete die Frage „Warum schickt Gott uns Krankheiten?“ noch mit der klaren Aussage: „Um uns von der Liebe zu den Geschöpfen zu lösen und uns zu IHM zu bekehren.“ Das klingt für viele Heutige zu schlicht. Dennoch werden Menschen nicht aufhören, angesichts eines übergeordneten Geschehens Deutungen für sich zu suchen. Der emeritierte Erzbischof von Mailand, Kardinal Angelo Scola, sagte, die aktuelle Notsituation „muss in uns die Frage nach dem Sinn unseres Lebens aufwerfen“. Der entscheidende Punkt sei: „Wofür lebe ich?“ Wenn die „Zeichen“ dazu anregen, erhalten sie – fernab aller Metaphysik – doch einen Sinn.

Über Jahrhunderte waren Seuchen, die mit Krankheit, Siechtum und Tod Länder und Völker überzogen, „Zeichen“ der Endzeit. Apokalyptische Volksfrömmigkeit und eine numinose Interpretationsmatrix sorgten für Sinngebung: Göttliche Intervention folgte menschlicher Regelverletzung. Seit der Aufklärung sind solche Erklärungen ebenso sinnlos wie die Epidemien selbst. Dennoch werden Menschen nicht aufhören, in „Katastrophen“ Deutungen zu suchen. Wo die einfachen Antworten der Metaphysik ausbleiben, ist der Mensch allein auf sich verwiesen und muss angesichts eines sinnlosen Geschehens die Frage nach dem eigenen Lebenssinn aufwerfen.

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