Europäische Union

Die neue Trias  der EU ist nicht tragfähig

Diversität,  Wokeness und Relativismus beherrschen Denken und Handeln in Brüssel. Europa lässt sich aber nicht ohne historisches Bewusstsein regieren und gestalten in Brüssel versucht man dies aber. Eine zeitgeschichtliche Inspektion.
Flagge der EU
Foto: adobe.stock.com | Soll die EU genesen, muss sie sich ihrer Wurzeln erinnern: Mit zeitgeistigen Beliebigkeiten kann man keinen Vielvölkerbund zusammenhalten. Mit Druck und Arroganz schon gar nicht.

Anlässlich der Verleihung des Karlspreises hat Preisträger Vâclav Havel (1936 - 2011) am 9. Mai 1991 in Aachen ein unvergessliches, leider bis in die Brüsseler und Berliner Spitzen der Politik vergessenes Bekenntnis zu Europa abgelegt. Der vormalige, über Jahre hinweg drangsalierte Regimekritiker und Dichter war zu diesem Zeitpunkt, exakt vom 29. Dezember 1989 bis 3. Juli 1992, Staatspräsident der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik gewesen. Nach der Trennung der beiden Staatsteile war er zudem von Januar 1993 bis Februar 2003 Präsident der Tschechischen Republik - also exakt zu der Zeit, als Polen, Tschechien und Ungarn am 12. März 1999 der NATO beitraten und bis ein Jahr (2004) vor dem Beitritt der baltischen Staaten sowie Polens, Tschechiens, der Slowakei, Ungarns und Sloweniens zur Europäischen Union (EU).

Vâclav Havel war ein hochgebildeter Mann. Nur so konnte er nach dem Zusammenbruch der kommunistisch-sowjetischen Hegemonie für sein Land und dessen mittelosteuropäische Nachbarn folgende Sätze sagen: "Indem wir uns heute zum Westen bekennen, bekennen wir uns vor allem zu einer bestimmten Zivilisation, zu einer bestimmten politischen Kultur, zu bestimmten geistigen Werten und universellen Prinzipien. Dabei geht es um eine Zivilisation, um eine Kultur und um Werte, die wir als die unseren empfinden, weil wir lange Jahrhunderte hindurch an ihrer Schaffung beteiligt waren ... Es geht um unsere Sehnsucht, nach Jahrzehnten auf den Weg zurückzukehren, der einst auch der unsere war." Mit "uns" meinte er dezidiert die Mittel- und Osteuropäischen Länder (MOE).

Europa ist weit mehr als nur die EU

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Würde Vâclav Havel diese Sätze heute wieder sagen? Ja, er würde sie wieder sagen. Und er würde deutlich machen, dass er mit "Europa" nicht die EU, sondern Europa meint, namentlich die ideelle Zugehörigkeit des mittleren und östlichen Europas zu einem in mehr als zwei Jahrtausenden gewachsenen europäischen Wertekosmos. Stattdessen ist heute Geschichtsvergessenheit angesagt. Mit einem Kanzler Helmut Kohl wäre es undenkbar gewesen, wie die Brüsseler Bürokratie und wie Berlin heute mit EU-Mitgliedern wie Polen und Ungarn umgehen. Für Kohl waren die "Kleinen" und Neuen in der EU immer ebenso wichtig wie die Platzhirsche Frankreich, Großbritannien und Italien.

Aber Kohl war ein zutiefst historisch denkender Mensch. Er hätte über den Kopf der Polen hinweg aktuell nicht Gespräche mit Putin und Lukaschenko über den Flüchtlingsansturm an der weißrussisch-polnischen Grenze geführt; er hätte sich an die Erinnerung der Polen an Verhandlungen zwischen Berlin und Moskau unter Ausschluss der Polen erinnert. Spätestens, als es um "Nordstream" ging. Kohl hätte sich daran erinnert, dass die erste große Bresche in den Eisernen Vorhang - mit Unterstützung des polnischen Papstes Johannes Paul II. - ab 1978 in Warschau geschlagen wurde. Er hätte sich erinnert, welchen Blutzoll Ungarn 1956 und die Prager im August 1968 zahlen mussten. Kohl hätte sich erinnert, dass Ungarn im September 1989 das erste Loch in den Eisernen Vorhang schnitt, um DDR-Bürgern die Ausreise nach Österreich und in die Bundesrepublik zu gewähren. Er hätte sich erinnert, dass Ungarns Grenzschließungen im Winter 2015/2016 Kanzlerin Merkel politisch retteten, denn eine weitere Million Flüchtlinge hätte sie politisch nicht überstanden. Mit Kohl hätte es auch keinen Brexit gegeben, den immerhin Merkel mit ihrer eigenwilligen Grenzöffnungspolitik vom Herbst 2015 maßgeblich mit provoziert hat.

„Würde die EU einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU stellen,
müsste dieses Beitrittsgesuch abgelehnt werden“

Nun, Geschichte wiederholt sich nie eins zu eins. Aber eine Besinnung auf die historische DNA von Partnern wäre nicht nur hilfreich, sondern mehr als geboten. Klar, Geschichte ist unbequem, weil sie   ohne Klitterung betrieben   Skepsis gegen Ideologien zu vermitteln vermag. Und weil sie im Weg steht, wenn es um vermeintlich hehre, hier angebliche "europäische" Ziele geht.

Aber mit einem solchen Fingerspitzengefühl ist es in den Brüsseler und Berliner Spitzen nicht weit her. Auch nicht bei der vermeintlichen "Königin von Europa", als die sich Angela Merkel in den jetzt zu ihrem Amtsende aus dem Boden sprießenden, schier hagiographischen "Bilanzen" gerne titulieren lässt. Nein, Merkel hat keine Antenne dafür, dass sich die mittelosteuropäischen EU-Länder sehr wohl daran erinnern, wie sie aus Moskau ferngesteuert wurden, und dass sie die Knute aus Moskau jetzt nicht durch einen kurzen, in Brüssel und Berlin geführten Zügel austauschen möchten.

Europa ist ein historisch gewachsener Kulturraum

Aber was ist "Europa", was ist "europäisch"? Ist Europa die EU, ist Europa der EURO, wie es eine historisch unterbelichtete Kanzlerin im Mai 2010 vor dem Bundestag suggerierte, als sie sagte: "Wenn der Euro scheitert, dann scheitert Europa"? Natürlich nicht. "Europa" lässt sich nicht aus ökonomischen Überlegungen und aus einem Währungs-, Bürokratie- und Technokratiemonster ableiten, sondern es wirkte und wirkt als Idee kulturstiftend. Nur Europas historisch gewachsener Bestand ermöglicht es uns, europäische Kategorien zu denken. Die Zukunft Europas hängt jedenfalls nicht von seiner Ökonomie ab, sondern von seinem kulturellen Selbstverständnis. Der frühere griechische Staatspräsident Konstantinos Karamanlis hat dieses Gemeingut anlässlich der Verleihung des Karlspreises in Aachen 1978 komprimiert so beschrieben: "Europäische Kultur ist die Synthese des griechischen, römischen und christlichen Geistes. Zu dieser Synthese hat der griechische Geist die Idee der Freiheit, der Wahrheit und der Schönheit beigetragen; der römische Geist die Idee des Staates und des Rechts und das Christentum den Glauben und die Liebe." Das sind die Kraftwerke unserer Kultur. Das sind die Verhaltens-Codices und die Deutungs-Codices, die Orientierung geben.

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Europäische Geistesgeschichte zeigt sich sodann vor allem in der Trias Ratio, Libertas, Humanitas. Oder auch in der Trias Judentum, Antike, Christentum, in der Trias Jerusalem, Athen, Rom. Vor diesem Hintergrund hat sich in mehr als 2000 Jahren Geschichte das "Europäische" recht konkret herauskristallisiert. Wer dies vernachlässigt, der fördert ein geschichtsloses, im Endeffekt gesichtsloses Europa.

Die EU erfüllt ihre eigenen Beitrittsvoraussetzungen nicht 

Kennzeichnend für Europa ist vor allem ein Bild vom Menschen und von seinen Gemeinschaften sowie eine Vorstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Aber wie ist es bestellt um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der EU? Eine rhetorische Frage! Würde die EU einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU stellen, müsste dieses Beitrittsgesuch abgelehnt werden. Denn Demokratie heißt: one man, one vote. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments (MdEP) aber vertreten je nach nationaler Herkunft extrem unterschiedlich viele Bürger: Ein MdEP aus Deutschland, Spanien und Frankreich vertritt mehr als 850 000 Bürger, ein MdEP aus Malta oder Luxemburg weniger als 83 000 Bürger.
Und was ist das Europaparlament? Es ist kein "Europaparlament", allenfalls das Parlament der Europäischen Union mit 751 Sitzen. Und die "Europawahl" ist keine Europawahl.

Und wie steht es um die Rechtsstaatlichkeit der EU? Ebenfalls nullkommanix. Die EU ist kein Staat, kein Bundesstaat, allenfalls ein Staatenbund. Sie ist damit kein Rechtsstaat, auch wenn sie etwa gegenüber Polen und Ungarn Rechtsstaatlichkeit einfordert oder gar Rechtsstaatsverletzungen moniert. Denn das A und O eines demokratischen Rechtsstaates ist Gewaltenteilung. Diese gibt es in der EU nicht. Die Legislative gibt es de facto nicht, und die Exekutive wird von jemandem geführt, der nie von einem Volk gewählt, sondern vom Duo Macron/Merkel ausgekungelt wurde. Und ein solches Brüsseler Konstrukt rüffelt nahezu wöchentlich Polen und Ungarn   im Namen der Rechtstaatlichkeit.

Polen weist Übergriffe der EU zurück

Erstes Beispiel: Brüssel attackiert seit Jahren die Justizreform der Polen. Ein Dorn im Auge ist den Eurokraten die 2018 in Polen eingesetzte Disziplinarkammer. Dieses Gremium ist für Disziplinarverfahren gegen Richter zuständig. Die Kammer kann die Immunität der Richter aufheben, ihnen das Gehalt kürzen oder sie sogar suspendieren. Zuletzt verhängte Brüssel gar ein Zwangsgeld von täglich (!) einer Million Euro. Anfang Oktober 2021 erreichte der Streit zwischen Polen und EU eine neue Stufe. Das polnische Verfassungsgericht hatte entschieden, dass EU-Recht teilweise nicht mit der Verfassung des eigenen Landes vereinbar sei. Mutig, die Polen!

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Zweites Beispiel: Die EU rügte im Juni 2021 Ungarn wegen eines Gesetzes, mit dem eine Propaganda für Homosexualität und Transgenderismus in Schulen gegenüber Minderjährigen unterbunden werden soll. Unter anderem soll es LSBTIIQ-Lobbygruppen nicht erlaubt sein, in Schulen aufzutreten. Ursula von der Leyen setzte sich medienwirksam in Szene - exakt zu Beginn der Fußballweltmeisterschaft 2021. Sei meinte, dass die Verteidigung von Drag-Queen-Vorlesestunden für Kindergartenkinder eine Sache "fundamentaler Menschenrechte" sei, aber nicht das Elternrecht, ihre Kinder vor dieser Art von Werbung für Homosexualität und Transgenderismus zu schützen. Ungarn stand am Pranger, Fußballstadien wurden mit den Regenbogenfarben angestrahlt, Fußballer trugen Regenbogenbinden, ein bayerischer Ministerpräsident Markus Söder samt CSU-Generalsekretär Markus Blume posierten zum Eröffnungsspiel in München mit einer Regenbogen-Corona-Maske. Aber was ist schon dabei, wenn Ungarn eben keine Frühsexualisierung wie in Berliner Kitas und Grundschulen haben will; wenn Ungarn "Vater" und "Mutter" nicht durch "Elter1" und "Elter 2" ersetzen will?

Ungarn und Polen werden zu Sehnsuchtsländern

Nein, Europa oder auch die EU werden nicht an einem zu wenig an Diversität,  Wokeness und Relativismus scheitern, sondern an einem Zuviel von dieser neuen Trias   und an einem selbstgewählten Verlust intellektueller und mentaler Vitalität. Ungarn und Polen bleiben deshalb Sehnsuchtsländer für die Idee eines friedlichen Europas souveräner Vaterländer.

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