Herzlichen Glückwunsch! Diese fünf Damen müssen nun nicht mehr so tun, als ob sie Harvey Weinstein attraktiv finden!“ Amüsiertes Gelächter des ganzen Auditoriums erfüllte den Saal, als der Schauspieler Seth MacFarlane 2013 bei der Verkündung der Oscar-Nominierungen für die weiblichen Nebenrollen seinen Witz machte. Weinstein, der wichtigste Filmproduzent Hollywoods, lachte mit. Da saß nun alles zusammen, was weit über Hollywood hinaus im Filmgeschäft Rang und Namen hat und dokumentierte: Wir wissen alle Bescheid. So ist es halt.
Bereits im Jahr 1924 kursierte, wie David Steinitz in der „Süddeutschen Zeitung“ berichtet, in Hollywood ein einschlägiger Stummfilm namens „Casting Couch“ – Besetzungscouch. Darin betritt eine schöne junge Frau das Büro eines Filmproduzenten, der ihr, zigarrerauchend und „in Lüstlingsmanier“, erklärt, was er von ihr erwartet. Sie stimmt erfreut zu, man begibt sich gemeinsam zur bereitstehenden Chaiselongue – und anschließend unterzeichnen beide freudig den Vertrag, der sie zum Filmstar machen soll. Auch wenn dieser Stummfilm verschollen ist: seine Botschaft haftete wie Pattex. Spätestens im Oktober 2017 platzte diese allseits tolerierte Eiterblase des Filmgeschäfts auf eine Weise, die sich zuvor kaum irgendjemand hätte vorstellen können.
Er machte sie zu Stars und konnte sie vernichten
Als die ersten Schauspielerinnen in den USA an die Öffentlichkeit gingen mit Details dessen, was der unangefochtene Filmmogul Harvey Weinstein ihnen an Erniedrigung und sexueller Belästigung bis hin zur Vergewaltigung angetan hatte, erhob sich nachgerade ein Orkan an Resonanz. Viele prominente Schauspielerinnen bestätigten, was ihre Kolleginnen angeklagt hatten – oft Jahrzehnte, nachdem sie es erlebt hatten. Es war, als ob Schleusen sich geöffnet hätten – und heraus strömten die immer gleichen, widerlichen Szenarien. Inzwischen werfen mehr als hundert Frauen, darunter Stars wie Gwyneth Paltrow, Salma Hayek, Ashley Judd, Gwyneth Paltrow und Angelina Jolie Weinstein vor, sie gedemütigt, sexuell belästigt oder sogar vergewaltigt zu haben. Uma Thurman erweiterte noch die Palette der Vorwürfe: Bei den Dreharbeiten des Kultfilms „Kill Bill“ sei sie von Regisseur Quentin Tarantino genötigt worden, einen hochriskanten Stunt selbst zu fahren, bei welchem sie verunglückt sei und sich „irreparable Verletzungen“ zugezogen habe. Das Video, welches diesen Unfall dokumentierte, sei ihr verweigert worden, der Unfallhergang verschleiert und Beweismaterial vorsätzlich zerstört, sodass eine juristische Aufarbeitung nicht möglich gewesen sei. Verantwortlich dafür zeichneten, so Thurman, die Filmproduzenten Lawrence Bender, E. Bennett Walsh – und Harvey Weinstein.
Am 8. Oktober 2017 wurde Weinstein aus der Produktionsfirma „The Weinstein Company“ entlassen. Eine Woche später wurde er aus der Oscar-Akademie ausgeschlossen. Am vergangenen Sonntag hat der Bundesstaat New York Weinsteins Firma sowie Harvey und Robert Weinstein wegen „bösartiger und ausbeuterischer Misshandlung“ von Mitarbeitern angeklagt. Warum nur, so fragten sich nun viele, konnte jemand wie Weinstein so lange damit durchkommen? Hier ist die Antwort leicht: Er war der wohl erfolgreichste Produzent, seine Filme gewannen Oscars und Golden Globes und spielten viel Geld ein. Er machte viele Schauspieler zu Stars, aber konnte sie auch vernichten. Die Presse wiederum fürchtete bei Veröffentlichung kostspielige Prozesse und hielt deshalb still. Warum aber haben all die von ihm in verschiedener Weise angegriffenen und missbrauchten Schauspielerinnen so lange geschwiegen?
Als die „Zeit“ Anfang des Jahres in zwei Dossiers schwere und schwerste Vorwürfe mehrerer Schauspielerinnen gegen den deutschen Starregisseur Dieter Wedel dokumentierte, die teils starke Parallelen zu den Vorwürfen gegen Weinstein aufwiesen, konnte man einige Antworten finden. Die Schauspielerin Esther Gemsch, die hier stellvertretend für mehrere erschütternde Fälle genannt sei, beschreibt beispielsweise darin, wie Wedel sie am Set vor versammelter Mannschaft gedemütigt, unflätig beschimpft und terrorisiert habe, nachdem sie sich geweigert hatte, mit ihm zu schlafen. Bei einem Vergewaltigungsversuch Wedels schließlich sei ihre Halswirbelsäule schwer verletzt worden. Ein ärztliches Attest, das auch die Ursache der Verletzung klar benennt, findet sich noch heute im Archiv der Telefilm Saar, einer Tochter des Saarländischen Rundfunks. Erst heute, 38 Jahre später, beschäftigt sich der Saarländische Rundfunk erstmalig mit diesem Vorfall. „Das ganze Team hat damals mitbekommen, wie Wedel mich behandelt hat. Niemand hat sich getraut, etwas dazu zu sagen.“ Esther Gemschs Anwalt verwies damals gegenüber der Filmgesellschaft „auf die Delikte der versuchten Notzucht, vorsätzliche Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung und Beleidigung“. Wedel bestritt alles und drohte, Gemsch zu vernichten. „Er sei mächtig genug, um dafür zu sorgen, dass sie nie wieder spielen werde, und die Produktionsfirma werde sie verklagen.“
Alleingelassen, in der Gefahr, den lange und teuer erlernten, geliebten Beruf womöglich niemals mehr ausüben zu können, mit möglichen Schadensersatzklagen im Nacken und ohne jedweden Rückhalt eines Senders des öffentlichen Rechts, der Produktion, der Kollegen oder Mitarbeiter, erfüllt von Scham, Selbstvorwürfen und Verzweiflung und ohne Geld für ein Gerichtsverfahren gegen einen Giganten des Films – wer da noch Fragen hat, warum junge Schauspielerinnen sich nicht gegen die beschriebenen Zustände wehrten, sollte sich vielleicht überlegen, ob er sie auch seiner Tochter so stellen würde, wäre sie betroffen.
Eine weitere Erwägung wird seltener angestellt. Schauspieler sind in einer ständigen Bewertungssituation. Sowohl beim Theater als auch ganz besonders in Film- und Fernsehproduktionen sind sie auf immer wiederkehrende Castings, also Vorsprechen, angewiesen. Jeder Schauspieler ist extrem davon abhängig, was man von ihm hält. Für jede Rolle stehen sehr viele Kandidaten zur Auswahl. Da es sehr viel weniger Frauen- als Männerrollen, aber sehr viel mehr Schauspielerinnen gibt, haben es Frauen schwerer, an gute Rollen zu kommen. Und die Zeit, in der sie arbeiten können, ist begrenzt: Ältere Schauspielerinnen haben ungleich geringere Chancen auf Rollen, und viele von ihnen werden eklatant geringer bezahlt als ihre männlichen Kollegen, wie die Bonner Schauspieldirektorin Nicola Bramcamp im Interview mit dem „Generalanzeiger“ kritisierte. Und nur zwanzig Prozent der Intendanzen sind weiblich besetzt. Um jeden Preis wollen die meisten Schauspielerinnen vermeiden, einen schlechten Ruf wegen vermeintlicher „Zickigkeit“ oder konträrer Haltungen gegen einen Regisseur oder Produzenten zu haben, der sich in der Branche schnell herumspricht. Je anerkannter und berühmter dieser ist, umso größer ist einerseits die Chance, selbst aufzusteigen, aber auch die Gefahr, ins Nichts zu stürzen, sollte man in Ungnade fallen.
Gebrochen werden, um formbar zu sein
Darauf werden die jungen Leute schon in der Schauspielschule vorbereitet. An jeder der staatlichen Schauspielschulen bewerben sich um die tausend Bewerber auf die zehn bis zwölf Plätze eines Jahrgangs. Wer es an keiner der staatlichen Schulen schafft, dem bleiben nur die halbstaatlichen und privaten Schulen, deren Absolventen ungleich geringere Chancen haben, Engagements in Theater, Film und Fernsehen zu gewinnen. Vor einigen Jahren zeigte der sehr sehenswerte Film „Die Spielwütigen“, der vier junge Schauspieler durch ihre Zeit an der berühmten Berliner Max Busch Schauspielschule und darüber hinaus begleitete, wie diese sehr verschiedenen jungen Leute in ihrer Ausbildungszeit gleichsam „gebrochen“ werden, um ganz und gar formbar, ja „Wachs in den Händen des Regisseurs“ zu werden. Auch das Buch „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ des heutigen Burgschauspielers Joachim Meyerhoff schildert aufs Komischste, aber auch Beklemmendste, wie schwierig der Spagat zwischen gewünschter Grenzüberschreitung und notwendiger Grenzziehung, zwischen Gebrochenwerden und Individuumbleiben sich gestalten kann, und wie nahezu unmöglich es ist, sich gegen sinnlos erscheinende, zuweilen sadistisch anmutende Anweisungen zu stellen. Ohne hier die Fürs und Widers von Ausbildungsmethoden diskutieren zu wollen, erscheint diese Prägung zumindest in den Händen von machtmissbrauchenden oder gar psychopathischen Regisseuren oder Produzenten als nicht gerade förderlich, wenn es darum geht, Unrecht zu benennen und publik zu machen.
Die Fälle Weinstein, Wedel und Co. ziehen weite Kreise. Inzwischen hat der Skandal auch das Theater erreicht. 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wiener Burgtheaters protestierten kürzlich in einem offenen Brief gegen Regisseurinnen und Regisseure, welche „Machtmissbrauch, Demütigung und Herabwürdigung“ als probates Mittel der Arbeit ansähen. Hans Werner Meyer, Schauspieler und Vorstand des Bundesverbands Schauspiel, spricht von einem Kulturwandel. Sexuell konnotierter Machtmissbrauch werde auch gesellschaftlich nicht mehr als Kavaliersdelikt akzeptiert. In der gesamten Schauspielbranche werde sich einiges ändern, angefangen von einem Verhaltenskodex sowie betriebsübergreifenden Beschwerdestellen, die verpflichtet sind, Missbrauchsverdächten nachzugehen und so eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Vor allem flachere Hierarchien werden als wichtige, zu etablierende Innovation gesehen. Ob Friedrich Nietzsche wohl recht behalten wird, dass Macht ohne Missbrauch ihren Reiz verliere?
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